Schatten über New York
Short Storys

Munin und Hugin

Teil 1

Schwingen des Vergessens

Erstens…

Es war spätabends, in einer verlassenen Gasse in New York. Rostrot tropfte das Sonnenlicht hinab auf die Pflastersteine, während wie aus weiter Ferne die Geräusche der Stadt an Munins Ohren drangen.

Er hockte reglos auf dem Geländer einer zerbröckelnden Feuertreppe, die Krallenfüße verborgen unter einem wallenden Mantel aus rußschwarzen Federn. Wie ein übergroßer Rabe blickte er auf den Körper unter sich hinab. Die Hände lagen locker auf seinen gebeugten Knien.

Munin legte den Kopf schief, eine allzu vogelartige Bewegung, und nahm die Szene in sich auf. Blut sickerte aus dem Frauenkörper, halb verborgen hinter dem breiten Rücken eines Mannes. Der Götterrabe in seiner menschlichen Form sah die Kamera der toten Frau mit zerbrochener Linse in der Nähe ihrer bleichen, ausgestreckten Finger liegen. Ein letztes rotes Licht blinkte dort noch, ein sterbendes Auge. In der anderen Hand hielt die Tote einen Notizblock, durchweicht in der Pfütze aus ihrem eigenen Lebenssaft.

Der Mann stand zwischen dem Frauenkörper und dem Eingang der dunklen Gasse. Er hielt sich ein Smartphone ans Ohr, machte hektische Handbewegungen. Munin legte den Kopf auf die andere Seite. Dann stieß er einen krächzenden Ruf aus, der zwischen den Hauswänden widerhallte.

John Amber, der Spezialermittler des Sonderdezernats „Zwischenwelt“, der gerade eine Verstärkung rufen wollte, hob den Kopf. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke. Dann stieß sich Munin von der Treppe ab. Sein Federmantel zerfloss in grauem Rauch, während sich die Flügel aus seinem Rücken streckten. Er schrumpfte und schrumpfte, bis er nur noch ein großer Rabe mit stechenden roten Augen war.

Eine einzelne, schwarze Feder sickerte zu Boden, bevor der schwarze Vogel im Nichts der Nacht verschwand. John Ambers Augen überzog ein trüber Schleier, dann wandte er sich mit mechanischen Bewegungen ab. Das Smartphone fiel aus seinen reglosen Fingern und blieb neben der Toten liegen.

 

Zweitens…

Am Hauptsitz der New Yorker Polizei am Police Plaza starrte die Ermittlerin für digitale Ermittlungen, Chrissy Parker, auf ein körniges Video. Die Aufnahmequalität war grauenhaft, stammte sie doch von einer Supermarktkamera, die eine Szene auf der anderen Straßenseite zeigte. Chrissy knetete nervös die Finger.

„Ich will es ja auch nicht glauben“, sagte sie leise zu Frank Miller, dem Chief of Police Department, der mit zusammengepressten Lippen hinter seinem Schreibtisch saß. „Aber… die Aufnahmen…“

„Spielen Sie es noch einmal ab. In Zeitlupe“, befahl Miller streng. Chrissy Parker schluckte und nickte.

Wieder flimmerten die undeutlichen Bilder über den Computerbildschirm. Die Szene wirkte abgehackt, da die Kamera ihre Aufnahmen im Abstand einiger Sekunden aufnahm. Auch war sie nicht dauerhaft auf die winzige, schmale, dunkle Gasse in Manhattan gerichtet, sondern schwenkte hin und her. Dennoch konnte man eine junge Frau sehen, die zu Fuß mit Kamera und Notizblock in die Cortlandt Alley einbog. Sie stand dort eine Weile herum. Nach einigen Minuten folgte ihr John Amber. Auch ohne die Gesichtserkennungssoftware hätte Chrissy Parker seine breiten Schultern und seine typischen Bewegungsmuster sofort erkannt.

„Verdammt“, zischte ihr Chef, als die Kamera dann schwenkte. Das nächste Bild zeigte Amber, der sich über die Frau beugte, die nun in einer sich ausbreitenden Pfütze aus Blut lag. Es wirkte, als hätte er… . Chrissy Parker weigerte sich, den Gedanken zu Ende zu bringen.

„Woher haben Sie diese Aufnahme?“

Chrissy Parker verzog das Gesicht.

„Das ist es ja“, sagte sie. „Diese Bilder stammen von vorgestern. Die Gasse liegt direkt gegenüber von einem Minimart in einer belebten Gegend. Aber niemand hat Schreie gehört, es liegt kein Notruf vor, nichts.“ Sie schüttelte den Kopf. „Aber das Merkwürdigste ist: Den Vorgang, aus dem unsere KI das weitergeleitet hat, finde ich auch nicht.“

„Wie meinen Sie das?“, fragte Miller scharf.

„Sie existiert nicht“, erklärte Chrissy. „Selbst, wenn… wenn Amber oder sonst wer sie gelöscht hätte, um die Tat zu verschleiern, sollten davon Spuren existieren. Aber da ist nichts. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wo diese Kameradaten herkommen oder warum sie uns nicht schon früher aufgefallen sind.“ Sie schluckte. „Das Einzige, was ich mit Sicherheit sagen kann, ist, dass die Aufnahmen echt sind und nicht manipuliert wurden.“

„Scheiße“, fasste der Chief of Police die Situation treffend zusammen.

 

Drittens…

John Amber starrte auf die Wand des Befragungsraums, auf die die verpixelten Kameraaufnahmen projiziert wurden. Gleich, nachdem er an diesem Morgen ins Büro gekommen war, hatte ihn Frank Miller persönlich hierher zitiert.

Fassungslos beobachtete er sich selbst dabei, wie er sich über eine Frauenleiche beugte und dann die kleine, schmale verließt. In der linken Hand hielt er ein Messer. Seine Schuhe hinterließen feuchte, blutige Abdrücke auf dem Bürgersteig, aber niemand schien sich dafür zu interessieren. Die Passanten machten nicht einmal einen Bogen um ihn.

„Ist das ein schlechter Scherz?“, fragte er. „Irgend so ein KI-Ding, um zu zeigen, wie leicht sich Aufnahmen fälschen lassen?“

Frank Miller schüttelte stumm den Kopf.

„Die Aufnahmen sind echt, John.“ Seine Stimme klang merkwürdig dumpf. John lief es eiskalt den Rücken hinunter. Seine Finger zitterten leicht auf der metallenen Tischplatte.

„Frank“, sagte er. „Du kennst mich doch. Ich würde nie…“

„Es hat sie auch niemand manipuliert. Chrissy hat die Datei wieder und wieder durchforstet. Du selbst warst gestern in dieser Gasse. Du hast die Frau auf den Aufnahmen getötet und – und du bist dann einfach mit der Tatwaffe in der Hand gegangen.“

„Das ist doch Schwachsinn!“, protestierte Amber. „Ich habe weder die Frau noch diese Gasse jemals zuvor gesehen!“

„Lisa hat blutbeschmierte Kleidung in deinem Spind gefunden, John. Die Kleidung, die du auf dem Video trägst.“

Es fühlte sich an, als würde er ertrinken. Hilflos sah John dabei zu, wie wieder und wieder die sprunghafte Szene an der Wand ablief. Die Frau, die in die Gasse ging. Er, der ihr folgte. Er, wie er sich über die Leiche beugte. Er, wie er die Gasse mit dem Messer in der Hand verließ. In Ambers Kopf herrschte gähnende Leere. Er hatte an diese Ereignisse nicht die geringste Erinnerung.

„Dann… Gedankenkontrolle. Jemand hat meinen Körper übernommen, oder…“ Er wusste selbst, dass er verzweifelt klang. Als würde er sich an den letzten Strohhalm klammern.

„Es ist nicht so, dass ich dir nicht glaube“, sagte Frank Miller mit einem Kopfschütteln. „Das Problem ist bloß, die Beweislast ist erdrückend. Und was die Gedankenkontrolle betrifft, so hat unsere Voodoo-Priesterin Grandma Mambo dich auf Spuren überprüft, als du hereingekommen bist. Nichts deutet darauf hin, dass du unter irgendeinem Zauber stehst.“

„Und? Und was jetzt?“, wollte John Amber wissen. Seine Stimme zitterte.

Der Chief of Department, Frank Miller, schlug mit der Hand auf den Metalltisch. „Jetzt finden wir verdammt noch mal heraus, wer dir was anhängen will, John, wieso du dich an nichts erinnerst und wo diese Tote herkommt.“ Er blickte John Amber fest in die Augen.

Eine Welle der Erleichterung durchlief den Spezialermittler. Er nickte zustimmend.

„Allerdings will ich, dass du Lisa Coleman nicht von der Seite weichst. Wir können uns nicht leisten, einen Tatverdächtigen frei herumlaufen zu lassen.“

„Aber ich dachte…!“, setzte John an, doch Frank Miller schüttelte nachdrücklich den Kopf.

„Alle Beweise sprechen dafür, dass du diese Frau getötet hast. Ich weiß, dass du es nicht warst, und das ganze Team weiß es auch. Aber für alle anderen Abteilungen müssen wir den Anschein wahren. Verstehst du?“

Schicksalsergeben nickte John Amber. Aber in seiner Brust brannte die Entschlossenheit. Er würde herausfinden, was hier vor sich ging. Und er würde seinen Namen reinwaschen, koste es, was es wolle.

 

Viertens…

Munin blickte durch die einzige nicht abgeklebte Kamera in ein schlichtes Büro. Für die Anwesenden war es ein harmloser schwarzer Punkt am oberen Bildschirmrand – für ihn war es ein Auge.
Ein Tor.

Auf der anderen Seite stand Chrissy Parker, direkt vor dem Bildschirm. Ihre Finger zuckten, ihre Stirn war in Falten gelegt. Hinter ihr, an einem langen Tisch, saßen zwei Männer und drei Frauen. John Amber erkannte Munin sofort – der New Yorker Cop wirkte wacher, fokussierter als bei ihrer letzten Begegnung. Der ältere Mann mit dem silbernen Bürstenhaarschnitt war Frank Miller, Chief of Department, ein Mensch, der sich nicht gerne täuschen ließ. Neben ihm saß die Spezialermittlerin Lisa Coleman, die Munin aufgrund eines internen Fotos des FBIs erkannte. Zur Linken der jungen Venezolanerin saß eine Mittfünfzigerin in bunter Kleidung – Grandma Mambo, deren dunkler Blick beinahe zu wachsam auf dem Bildschirm eines Laptops lag. Neben der Voodoo-Priesterin saß noch eine relativ junge Frau, zu deren Füßen eine weiße Hündin mit roten Ohren auf dem Boden lag. Donna Fallows und ihre tierische Begleiterin Mystique.

Chrissy Parker starrte auf den Laptop. Dann auf die anderen vier Geräte, die sie aus der Abteilung für digitale Ermittlungen herangeschafft hatte. Zum Schluss auf ein uraltes Nokia-Handy – ein trotziges, absichtlich analoges Artefakt.

Munin schnaubte, ein tonloses Geräusch, das durch die Leitungen fuhr wie elektrischer Wind.

„Nichts“, sagte Chrissy. Ihre Stimme war brüchig. „Ich schwöre, ich hatte die digitale Akte von Allie Thompson gefunden. Und ich hatte alles aufgeschrieben.“ Sie schüttelte den Kopf – der Tisch war leer. Keine Spur von den Notizen, dachte der Götterrabe zufrieden.

„Jedenfalls, Allie Thompson war eine Reporterin, das weiß ich noch. Für irgendein okkultes Magazin. New York Magic, oder so.“

Die Voodoo-Priesterin Grandma Mambo schnaubte.

„Das ist ein Klatschblatt für Esoteriker“, erklärte sie. „Nichts, was da drin veröffentlicht werden könnte, wäre für irgendjemand gefährlich. Schon gar nicht für meinen abgebrühten super special investigator.“

John Amber verdrehte die Augen.

„Ich habe noch nie von dem Magazin gehört. Und auch der Name sagt mir nichts. Immer noch nichts.“ Er rieb sich die Schläfen.

„Sie hatte, glaube ich, einen Artikel über Raben in Arbeit. Du weißt schon, dieser komische Zählreim“, erklärte Chrissy Parker mit gerunzelter Stirn. „Wie geht der noch? Einer bringt Kummer, zwei bringen Spaß, drei nur den Tod und vier Schicksalsmaß?“

„Ach herrje“, murmelte die haitianische Voodoo-Priesterin. „Fünf sind für Silber, sechse für Gold, und sieben Erinnerung alt und hold. Dieser Reim?“

John Amber horchte auf. „Das ist ein Zählreim für Raben? Raben, war da nicht irgendwas? Ein Rabe, der mit Erinnerungen zu tun hat?“

Munin klapperte verärgert mit dem Schnabel, dort, wo sich sein physischer Körper befand. Wartete. Er sträubte die nachtschwarzen Federn in seinem Nacken. Seine Flügel raschelten.

Diese Menschen. Diese winzigen, hartnäckigen, fleischlichen Menschen.

Sie bohrten. Sie gruben. Sie kratzten an dem, was längst in Dunkelheit versenkt war. An seiner eleganten Arbeit. An seinen vorsichtigen Verwebungen, damit das Gleichgewicht gewahrt blieb.

Und hier waren sie nun, diese aufmüpfigen, kleinen, bedeutungslosen Wesen und hörten nicht auf, Fragen zu stellen. Allie Thompson hätte längst aus allen Erinnerungen getilgt sein können.

Irgendwo weit weg vom One Police Plaza, auf einem Hausdach, das im Licht der Nachmittagssonne einsam glitzerte, erhob sich der Götterrabe und strich sich mit neu gebildeten Fingern über den Federumhang. In dieser Angelegenheit musste er wohl doch noch ein wenig nachhelfen.

 

Fünftens…

„Ich bin froh, dass du diese Idee hattest“, sagte John Amber, der seiner Kollegin Lisa Coleman in die Asservatenkammer des New York City Police Departments folgte. „Selbst, wenn wir irgendeinen rabenartigen Computervirus haben, kann der wohl kaum die physischen Beweismittel verschwinden lassen.“

Die venezolanische Gerichtsmedizinerin nickte.

„Die Leiche haben wir ja leider nicht. Aber ich habe deine blutige Kleidung schon ins Labor geschickt. Da kann sie kaum verloren gehen.“

Sie drückte die Tür auf und die staubige Luft kitzelte die beiden Ermittler in der Nase. Lisa Coleman nieste leise.

„Wäre wesentlich leichter, wenn sich jemand an die Fallnummer erinnern könnte“, knurrte John Amber. So mussten sie eben alles einzeln durchsuchen. Das konnte zwar bei der Unmenge an Kartons, Plastikboxen und Beweismaterial eine kleine Ewigkeit dauern, aber es wäre dann immerhin eine ernst zu nehmende Spur.

„Hast du dich inzwischen erinnert, was das mit dem Raben und der Erinnerung war?“, wollte Lisa Coleman wissen.

Frustriert schüttelte der New Yorker Cop den Kopf. „Grandma Mambo und Chrissy Parker werden im Internet dazu recherchieren. Und Donna und Mystique sind zur Cortlandt Alley aufgebrochen. Vielleicht finden die ja was.“ Er bezweifelte es allerdings. Jemand will partout nicht, dass in diesem Fall ermittelt wird.

„Ich frage mich, was diese Allie Thompson herausgefunden hat“, meinte die Pathologin, während sie zwischen den hohen Regalreihen entlang wanderte. Ihr Finger strich im schummrigen Licht über halb verblasste Schildchen, Namen, Registrierungsnummern.

„Was, wenn sie wirklich Hinweise auf die Zwischenwelt gefunden hat?“, sprach John einen Gedanken aus, der schon eine Weile in seinem Kopf herumspukte. „Immerhin ist Geheimhaltung oberste Priorität vieler übernatürlicher Wesen.“

„Und die Bewohner der Zwischenwelt würden dafür ohne zu zögern töten“, seufzte seine Kollegin. „Da wäre es wirklich praktisch, wenn ich eine Leiche zum Untersuchen hätte. Und Rabenmonster gibt es ja wirklich wie Sand am Meer.“

„Wollen wir hoffen, dass wir es nicht mit einer keltischen Kriegsgöttin wie der Morrígan zu tun haben“, schnaubte Amber, während er die Reihen alphabetisch absuchte. „Die würde vermutlich auch einen Mord nicht vertuschen müssen. Und Neuntöter, die schwarzen Raben aus den Grimmschen Märchen, die fressen nur Leichen.“

„Hattest du nicht mal mit einer Krähenhexe zu tun?“, fragte Lisa, dann fluchte sie ausgiebig.

„Ja, schon“, erwiderte John Amber und hastete zu ihr. „Hast du was gefunden?“

Die Pathologin zeigte auf eine leere Stelle in den Regalen. Am Boden zu ihren Füßen lag noch ein Fitzelchen Papier, auf dem er die Buchstaben „A. Thompson“ und den Anfang einer Zahlenfolge sehen konnte. Von der Kiste mit Beweismaterial jedoch fehlte jede Spur.

„Mist!“

 

Sechstens…

Die Gasse roch nach altem Fett und nassem Stein. Nichts wies darauf hin, dass in der Cordtland Alley vor weniger als zwei Tagen eine Leiche gelegen hatte. Eine, für deren Tod Donna Fallows beinahe ihren Kollegen John Amber verantwortlich gemacht hätte. Aber auch sie war mittlerweile davon überzeugt, dass die Reporterin Allie Thompson eines übernatürlichen Mordes gestorben war. Der Raben-Reim, die verlorenen Beweismittel, die gelöschte Akte, alles wies darauf hin.

Die Personenfahnderin bewegte sich langsam, fast lautlos, die Hand am Gürtel, während Mystique mit gesenktem Kopf neben ihr trottete. Ihre roten Ohren zuckten – sie hörte etwas, was Donna noch nicht bemerkte. Dann blieb die Hündin stehen, starr vor Anspannung. Donna folgte ihrem Blick.

Auf dem rostigen Feuerleitersims kauerte ein Wesen. Zuerst dachte die Hundeführerin, es handele sich um einen großen, schwarzen Vogel. Aber dafür wirkte es zu menschlich. Es hatte blasse Haut und riesige, rote Augen. Um seine Schultern wirbelte eine Art Mantel aus schwarzen Federn.

Instinktiv wanderte ihr Griff zur Waffe an ihrer Hüfte. Mystique stieß ein warnendes Grollen aus.

„Sind Sie für den Tod von Allie Thompson verantwortlich?“, fragte sie scharf. In einer flüssigen Bewegung zog sie die Dienstwaffe und zielte.

Der Fremde legte den Kopf in einer vogelhaften Bewegung schief und blinzelte träge.

„Du trägst den Geruch des Drüben an dir“, sagte er. Seine Stimme klang kratzig und rau, wie das Krächzen eines Raben.

„Einer für Kummer“, schoss es Donna durch den Kopf. Ihre Finger zitterten um den Griff der Pistole.

„Wer sind Sie?“

„Munin“, sagte das Wesen. Eine ferne Erinnerung blitzte in der jungen Frau auf – eine Geschichte aus der nordischen Mythologie, etwas mit dem Göttervater Odin und zwei Raben.

„Warum haben Sie Allie Thompson umgebracht?“

„Sie wusste von uns“, erwiderte Munin, vollkommen gelassen. Er wirkte regelrecht entspannt, was die Hundeführerin nur noch nervöser machte. Was für ein Wesen war dieser Rabe? Dieser Mann? „Genau wie du. Menschen sollten nichts von der Zwischenwelt wissen.“ Seine Stimme wurde dunkler, tiefer, wie ein fernes Echo direkt aus Donnas Gedanken. „Du gräbst zu tief. Du weißt zu viel. Du findest.“

Dann hob er den Kopf und krächzte – ein einziger, scharfer Laut, der durch die Gasse schnitt wie scharfes Schwert.

Mystique jaulte auf, fiel zurück. Donna taumelte, schlug gegen eine Mauer, hielt sich den Kopf. Bilder blitzten vor ihren Augen auf: ihr Vater, John Amber als Ogerdämon auf einem Karnevalswagen, Werwölfe auf dem Highway. Sie wimmerte leise.

Dann war plötzlich alles wieder ruhig. Donna Fallows rieb sich stirnrunzelnd die Schläfen. Wo war sie denn hier gelandet?

Mystique drückte sich winselnd gegen ihr Bein. Ihr Blick war starr auf den Himmel gerichtet.

„Hey, Mädel“, sagte Donna und lachte leise. „Komm. Scheinbar haben wir uns auf unserer üblichen Gassirunde ganz schön verlaufen. Wir sollten besser nach Hause gehen, Dad macht sich bestimmt Sorgen.“

 

Siebtens…

Grandma Mambo platzte in die Asservatenkammer, in der John Amber und Lisa Coleman noch immer versuchten, zu begreifen, weshalb die Kiste zum Fall Allie Thompson verschwunden war.

„Es ist der Götterrabe!“, rief sie. Ihr bunter Turban saß schief, sie wirkte vollkommen durcheinander. „Munin. Ich habe ihn gesehen – konnte mir gerade rechtzeitig die Ohren zuhalten. Chrissy hat er erwischt.“

„Grandma Mambo?“, fragte John Amber überrascht, als er die füllige Haitianerin auf sich zu hasten sah. Sie war schweißbedeckt und wirkte ungewöhnlich blass.

„Warte, hast du gerade Munin gesagt? Wie in Hugin und Munin?“, fügte er hinzu. Die Voodoo-Priesterin nickte nachdrücklich.

„Wer bitte sind Hugin und Munin?“, wollte Lisa Coleman wissen. „Und was meinst du mit: Er hat Chrissy erwischt?“

„Hugin und Munin sind in der nordischen Mythologie die Begleiter des Allvaters Odin“, erklärte John Amber und schlug sich gegen die Stirn. Natürlich – darauf hätte er gleich kommen sollen. Es erklärte so einiges. „Sie dienen als Odins Augen und Ohren. Es ist so, dass Hugin Gedanken auffängt und sie zu Odin trägt, während Munin“, Amber machte eine kleine Pause, „Erinnerungen bewahrt.“

„Oder stiehlt“, ergänzte die Voodoo-Priesterin grimmig.

„Aber wieso sollte der Götterrabe eine Journalistin umbringen? Und unsere Erinnerungen an sie?“, fragte Lisa Coleman. „Und was ist jetzt mit Chrissy Parker? Was ist denn passiert?“

Ein Geräusch wie schlagende Flügel drang durch den Gang hinter ihnen. Grandma Mambo schob die beiden reichlich irritierten Spezialermittler vor sich her.

„Keine Zeit“, knurrte sie. „Ich habe keine Schutzzauber hier. Nichts kann uns vor dem Erinnerungsdieb schützen. Wir müssen hier weg! Er hat Chrissy Parkers komplette Erinnerungen an die Zwischenwelt und an uns ausgelöscht.“

„Dann müssen wir Frank auch warnen“, warf John ein, während er vorwärts stolperte.

Lisa Coleman warf einen Blick durch die Tür der Beweiskammer. Ihre Augen weiteten sich, als sie eine groß gewachsene, hagere Gestalt auf sie zukommen sah. Das Wesen hatte totenbleiche Haut und tiefrote Augen. Es ähnelte vage einem Mann, aber statt Füßen hatte er Vogelkrallen. Über den Schultern hing ein Mantel aus schwarzen Federn.

„Er ist schon hier“, zischte sie.

„Chief Miller ist verloren“, flüsterte Grandma Mambo. „Wir müssen uns in Sicherheit bringen und unseren nächsten Schritt planen – sonst wird es bald keine Geheimabteilung ‚Zwischenwelt‘ mehr geben!“

„Aber wohin können wir gehen?“ Lisa Coleman duckte sich instinktiv. „Munin kommt direkt auf uns zu.“

Grandma Mambo blickte grimmig zu ihren beiden Kollegen.

„Ich kann uns in die Zwischenwelt bringen. Allerdings habe ich nichts hier, um das kontrolliert zu tun. Ich kann nicht garantieren, wo wir herauskommen werden.“

„Lass uns das als letzte Option aufheben“, meinte John. „Ich bin sicher…“

„Wenn wir seinen Ruf hören, ist es aus!“ Grandma Mambo packte den Spezialermittler bei den Schultern und schüttelte ihn. Echte Panik lag in ihren Augen. „Wir werden alles vergessen, woran wir so hart gearbeitet haben, aber auch unsere Freundschaft. All die Leute, denen wir geholfen haben. Wer, wenn nicht wir, soll die Menschen da draußen vor den Monstern schützen?“

Der Spezialermittler blickte von Lisa Coleman zu der Voodoo-Priesterin. Presste die Lippen zusammen.

Die Schritte von Munin verharrten vor der Tür zur Beweismittelkammer.

„Ihr müsst jetzt aufhören“, drang seine Stimme zu ihnen.

Es gab keinen weiteren Ausgang aus diesem winzigen, vollgestopften Raum. Nicht einmal ein Fenster, durch das sie gepasst hätten. Der Götterrabe stand zwischen ihnen und dem einzigen Ausweg.

John Amber schloss die Augen und schluckte.

„Okay, Wideline“, sagte er leise. Dass er ihren eigentlichen Namen verwendete, verriet Grandma Mambo, wie aufgewühlt er war. „Tu es.“

Im nächsten Moment erhellte ein gleißender Blitz die Asservatenkammer. Als Munin seinen rauen Schrei ausstieß, war der Raum bereits leer.

 

Achtens…

Frank Miller saß an seinem Schreibtisch und ging die Berichte der letzten Tage durch. Es war einiges zusammengekommen. In New York ruhte das Verbrechen nie, und von Diebstahl über Hausfriedensbruch bis zu Mord war alles dabei.

Er streckte die Arme über den Kopf, um etwas von der Anspannung abzuwerfen. Er war wirklich nicht mehr der Jüngste – vermutlich sollte er bald den Rat seiner Frau annehmen und in Rente gehen. Eigentlich war das längst überfällig.

Mit einem Doppelklick öffnete er den einen Ordner, der seit Jahren unangetastet auf seinem Computer lag.

„Es wird Zeit, die Uniform an den Nagel zu hängen“, sagte er zu sich selbst.

Doch dann fiel ihm ein anderer Ordner im gleichen Verzeichnis auf, den er noch nie zuvor gesehen hatte. „Zwischenwelt“, was für ein alberner Name. Da hatte sich vermutlich jemand einen Scherz erlaubt. Ohne zu zögern oder den Inhalt anzusehen, verschob Frank Miller den Ordner in den Papierkorb – und löschte damit unwissentlich alle Fallakten, die je in der von ihm gegründeten Abteilung angelegt worden sind.

Dann schaltete er den PC aus, nahm sich die Jacke vom Ständer und machte sich auf den Heimweg.

Teil 2 demnächst hier

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