Schatten über New York
Short Storys

Urban Legends
Der gelbe Teppich - Eine Lisa Coleman Geschichte

Magnus Archer blinzelte. Dunkelheit färbte die hölzernen Deckenbalken über ihm. Nur hin und wieder zogen sich wie Wellen die Lichtstreifen eines vorbeifahrenden Autos über seine Wände. Er streckte sich genüsslich unter der Daunendecke.

Dann hielt er inne. Ein merkwürdiges Gefühl überkam ihn. Hatte ihn etwas geweckt? Magnus Archers Herz klopfte laut in seiner Brust. Irgendetwas an dieser Situation kam ihm vertraut vor. Nur was?

Langsam setzte er sich auf und grub die Zehen in den Teppichboden. Seine Pantoffeln ignorierte er. Stattdessen verließ er sein kleines Schlafzimmer und schlüpfte die Treppe hinunter, die zu seinem Laden führte. „Archer’s Archive” lag friedlich und verlassen da. Alle Türen waren verschlossen. Alle Fenster heil.

Magnus Archer runzelte die Stirn. Auch dieser Gedanke kam ihm vertraut vor. Hatte er das hier nicht schon einmal genau so erlebt? Oder fast genauso? Er tappte mit kalten Zehen durch den von Büchern gesäumten Raum. Sein Atem stockte, als er direkt vor dem Durchgang stand. Dem Durchgang zu seinem Keller. Hing der Riegel, der diese Tür normalerweise verschlossen hielt, nicht schief und lose über der Klinke?

Magnus Archer ließ sich auf einen Stuhl sinken. Etwas stimmte hier nicht. Etwas stimmte hier ganz und gar nicht.

***

Lisa Coleman zog die dünne Plastikplane wieder über die Leiche eines jungen Mannes. Sie war ja einiges gewöhnt, seit sie zusammen mit John Amber und Grandma Mambo beim Sonderdezernat Zwischenwelt arbeitete. Aber einen Toten ganz ohne Gesicht? Das war dann doch etwas viel.

Eine Leiche mit abgerissenem Gesicht, das hätte sie ertragen können. Ohne Haut, klar. Kein Problem. Fürchterlich entstellt? Sie hatte schon Schlimmeres gesehen. Aber dieser Körper hatte dort, wo seine Augen, Nase, Mund hätten sein sollen, einfach… eine glatte Fläche. Es erinnerte sie an den Verwischen-Effekt, den man mit Bildbearbeitungssoftware wie Photoshop erzielen konnte. Dazu kamen die Wunden, an denen er gestorben war. Sie sahen fast, aber eben nur fast, aus wie etwas, das ein wilder Hund verursachen mochte.

Lisa Coleman rieb sich müde über die Stirn. Irgendeine vage Erinnerung kratzte an ihren Gedanken. Aber es war zwei Uhr morgens, und eigentlich hätte sie schon vor Stunden Feierabend machen sollen. Es war an der Zeit, sich aufs Ohr zu hauen. Recherchieren konnte sie morgen immer noch. Ein Gutes hatte die Arbeit in der Pathologie: Ihre Patienten, genauso wie die Verdächtigen, rannten ihr nicht davon.

Lisa nahm sich den Mantel vom Haken neben der Tür und wollte gerade gehen, da fiel ihr Blick auf die persönlichen Gegenstände des Toten. Darunter war eine Visitenkarte, deren goldene Aufschrift im Licht der Neonröhre blitzte. „Archer’s Archive” stand darauf. Mit einem Schulterzucken steckte Lisa die Karte ein.

***

Tony Bid spürte, wie Aufregung ihn durchströmte. Er hatte es geschafft! Er hatte es tatsächlich geschafft! Die gelbe Tapete, der beige Teppich auf dem Boden, ja sogar der muffige, feuchte Geruch. Alles war genau wie in der Urban Legend, der Geschichte aus dem Internet.

Wer hätte gedacht, dass in dem verstaubten Laden tatsächlich eine Noclipping Zone lag. Und dass seine Schwester Anna und er es tatsächlich mit nur ein bisschen Schwung hierher geschafft hatten. In die Backrooms, die Räume hinter der Realität.

Tony zückte sein Handy und begann sofort zu filmen. Klar, diese sich ewig fortsetzende Aneinanderreihung von immer gleichen Räumen war ein bisschen befremdlich. Ein bisschen unheimlich. Aber das machte den Thrill schließlich aus.

„Wir haben es geschafft”, flüsterte er und richtete seine Kamera in alle Richtungen aus. Über ihm summten die Leuchtstoffröhren.

„Super, wir sind hier. Jetzt lass uns wieder verschwinden”, nörgelte Anna.

Seine Schwester war manchmal ein richtiges Weichei. Hier war nichts Besorgniserregendes. Nicht mal einer der Facelings, gesichtslose Menschen, die es angeblich in den Backrooms gab. Nein, dieser erste Level war einfach nur verlassen. Und megacool.

„Ach, sei keine Memme”, lachte er. „Nicht jeder schafft das Noclipping und kommt hierher. Jetzt lass uns wenigstens ein bisschen was erforschen!”

***

Lisa Colemans Regenschirm klapperte leise, als sie ihn in „Archer’s Archive” beiseite stellte. Der ganze Laden war vollgestopft mit uraltem Zeug. Bücher, Statuen, sogar Schriftrollen und Schmuckstücke. Es roch nach Regen und Papier. Mit einem schiefen Grinsen dachte sie, dass sich John Amber, ihr Kollege, hier wohlfühlen würde. Der steckte in seiner Freizeit auch immer mit der Nase in alten Wälzern.

Lisa dagegen fand die Atmosphäre in „Archer’s Archive” eher bedrängend. Beinahe klaustrophobisch, mit so engen Gängen und den deckenhohen, dunklen Regalen.

„Kann ich Ihnen helfen?”

Sie zuckte zusammen, als eine leise, schnarrende Stimme hinter ihr ertönte. Reiß dich zusammen, schalt Lisa sich. Du bist immerhin eine Sonderermittlerin!

„Ja, ich suche nach Mr. Magnus Archer”, sagte sie und drehte sich um. Im Gang stand ein dünner, großgewachsener Mann mit schütterem, grauem Haar und eisblauen Augen. Sein Nadelstreifenanzug saß tadellos, aber dennoch schien er irgendwie… unfertig.

„Ich bin Magnus Archer”, sagte er und hielt ihr die Hand hin. „Und mit wem habe ich die Ehre?”

„Sonderermittlerin Lisa Coleman”, stellte sie sich vor.

Archer hatte erschreckend schmale Lippen. Sie musste wirklich genau hinsehen, um diese überhaupt ausmachen zu können. Ein Schauder rann ihr über den Rücken. Hier stimmte doch was nicht.

„Ich bin hier, weil…”

Sie verzog ein wenig das Gesicht. Wie sollte sie es am besten formulieren?

„Weil bei einem Toten eine Ihrer Visitenkarten gefunden wurde. Sein Name war Peter Peregrine.”

„Ah”, machte Archer nur. „Bitte, folgen Sie mir.”

Er führte Lisa Coleman zu einer winzigen, gut verborgenen Tür. Dahinter führte eine schmale Stiege in einen dunklen Keller. Schließlich erreichten sie eine Sackgasse. Lisa fühlte sich zunehmend unwohler. Sie wünschte sich beinahe, sie trüge eine Dienstwaffe. Aber daran hatte sie natürlich nicht gedacht - warum auch? Sie wollte ja nur einen Laden aufsuchen. Vor ihr auf dem Boden standen zwei Rucksäcke.

„Bei mir wurde gestern eingebrochen”, sagte Archer. „Peter… war ein guter Freund. Ich fürchte, er ist vor etwas hier nach draußen geflohen. Und jetzt sind zwei Dummköpfe hineingegangen.”

„Hinein?”, fragte Lisa Coleman und betrachtete stirnrunzelnd die Wand. Sie wirkte dunkler als der Rest dieses Kellers. Wieder kratzte die Erinnerung an ihren Gedanken. Menschen ohne Gesichter. Wände, die anders, ungewöhnlich aussahen. Irgendetwas hatte sie da doch gelesen. In irgendeinem Artikel? Jedenfalls war hier definitiv kein Durchgang.

„Hm. Sie sind doch Ermittlerin. Von der Polizei. Können Sie das übernehmen?”

„Ich kann Ihren Fall aufnehmen”, bestätigte Lisa und fischte nach ihrem Smartphone, um sich Notizen zu machen, „Sagen Sie mir - ”

Im nächsten Moment verlor sie das Gleichgewicht. Das Letzte, was sie sah, bevor sie durch die merkwürdig weiche, leicht britzelnde Wand stürzte, war der entschuldigende Blick in Archers Augen.

***

Tony unterdrückte ein genervtes Seufzen. Seine blöde Schwester. Er hätte sie zu Hause lassen sollen. Stattdessen klebte sie jetzt an ihm und verwackelte seine ganzen Aufnahmen.

„Wir hätten die Rucksäcke mitnehmen sollen”, flüsterte sie.

Tony wünschte, sie würde die Klappe halten. Klar hätten sie die Rucksäcke mitnehmen sollen. Aber mit den zusätzlichen Gewichten waren sie einfach nicht schnell genug gewesen. Denn um den Noclipping-Effekt auszulösen, musste man eine gewisse Geschwindigkeit erreichen. Und da weder er noch Anna richtig sportlich waren, mussten sie eben die schweren Rucksäcke zurücklassen.

„Ach, sei kein solcher Angsthase”, stöhnte Tony. „Alter, wenn ich die Fotos in der Schule herzeige, dann…!”

Er unterbrach sich. War da ein Geräusch? Es klang wie… Schritte. Rhythmisch. Hatten sie vielleicht einen Faceling gefunden? Einen Menschen, dessen Gesicht aussah, als wäre es mit Photoshop verwischt worden?

„Shhht. Hörst du das?”

Seine Schwester, die dumme Ziege, wimmerte. Tony lauschte konzentriert. Es klang irgendwie… schabend. Wie Krallen auf Haut.

Gänsehaut zog sich über seine Arme. Das konnte nicht sein. Sein Herz raste plötzlich. Fast wäre ihm das Smartphone aus der Hand gefallen. Sein Blick huschte durch die immer gleichen Gänge. Wo waren sie nochmal hergekommen?

Um ihn herum sah alles gleich aus. Klar, waren ja die Backrooms. Aber plötzlich waren die gelben Tapeten, die gelben Säulen, der gelbe Teppich, alles unheimlich. Schatten lagen hart und scharfkantig auf dem Boden. Das Kratzgeräusch wurde von einem Wimmern unterbrochen, als hätte sich jemand - nein, etwas - Schorf von einer Wunde gekratzt.

„Weg hier!”, schrie Anna.

***

Lisa Coleman kam hart auf ausgetretenem Teppichboden auf. Eine Staubwolke wirbelte um sie herum. Sie blinzelte. Alles war… gelb. Der Teppichboden, wenn auch eher beige. Die Tapete mit dunklerem Rautenmuster. Sogar die Decke, an der Leuchtstoffröhren summten. Und die eine Säule, die mitten im Raum stand. Alles gelb. Es verursachte ihr Kopfschmerzen.

Sie fischte nach ihrem Smartphone. Kein Empfang, war ja klar. Dafür - Lisa nickte zufrieden. Die mobilen Daten funktionierten, warum auch immer. So konnte sie wenigstens eine Email an die Kollegen schreiben. Denn eins war klar: Sie war definitiv nicht mehr in New York.

Dann schaute sich die Sonderermittlerin aufmerksam um. Alles sah gleich aus. Das Gefühl erinnerte sie an Einkaufszentren kurz vor Ladenschluss. Oder an Spielplätze mitten in der Nacht. Wo auch immer sie war, diese Struktur, diese Räume, sie wirkten wie menschengemacht. Nur, dass sie vollkommen menschenleer waren.

Sie dachte an den Toten, Peter Peregrine, und an Magnus Archer. Drehte sich um. Die Wand hinter ihr wirkte… heller. Weniger gelb, irgendwie verblasst. Sie drückte die Hand dagegen. Die Wand gab nach. Zäh wie Gummi bog sie sich um Lisas Finger herum. Wenn sie schnell genug rannte, konnte sie vermutlich durchbrechen.

Magnus Archer hatte sie durch diese Wand geschubst. Nachdem sie ihn nach Peter Peregrine gefragt hatte. Nachdem er ihr die beiden Rucksäcke gezeigt hatte. Bedeutete das, dass Peregrine von hier gekommen war? Aus diesen endlos aneinandergereihten, gelben Räumen?

Vor allem aber bedeuteten die beiden Rucksäcke wohl, dass hier weitere Menschen waren. Menschen, die möglicherweise in Gefahr schwebten. Lisa Coleman seufzte tief, nahm einen Kugelschreiber aus der Manteltasche und machte sich auf den Weg.

***

Den Kugelschreiber verwendete Lisa Coleman, um die Kreuzungen zu markieren. Wenn sie jemals wieder zurück zum Ausgang dieser merkwürdig gelben, verzerrten Welt kehren wollte, brauchte sie Orientierungshilfen. Sie hatte das Gefühl, eine Ewigkeit unterwegs zu sein. Je weiter sie sich vom Ausgang entfernte, desto schlimmer war die Beklemmung, die ihre Brust zusammenschnürte. Hinter jeder Kurve rechnete sie damit, von etwas überfallen zu werden.

Aber hier war nichts. Nichts, und niemand. Kein Lebewesen außer ihr. Sie war alleine. Lisa schluckte gegen die Enge in ihrem Hals. Sie wünschte wirklich, John Amber wäre hier. Oder auch Grandma Mambo. Ja, sogar einen verdammten Vampir hätte sie dieser unendlichen, gelben Leere vorgezogen. Sie blinzelte heftig. Verflucht, sie würde jetzt sicher nicht in Tränen ausbrechen, egal, wie sehr sie diese drückende Leere an die erste Zeit nach dem Verschwinden ihrer Mutter erinnerte.

Als sie aus der Ferne zwei Gestalten ausmachte, erstarrte Lisa. Verdammt, sie hätte wirklich eine Waffe mitnehmen sollen. Gut, im Zweifelsfall konnte sie auch mit einem Kugelschreiber richtig viel Schaden ausrichten. Für irgendwas musste die FBI Academy ja gut gewesen sein.

Aber dann erkannte sie, dass es zwei Teenager waren. Sie stürmten den Gang hinunter auf sie zu.

„Laufen Sie!”, schrie das Mädchen. Beinahe hätte es Lisa umgerannt, aber sie machte einen Schritt zur Seite und fing ihren Schwung ab.

„Alles in Ordnung?”, fragte Lisa. Ihr Herz wummerte laut in ihrer Brust.

„Es ist ein verdammter Hound hinter uns her!”, keuchte der Junge. „Was denken Sie denn?”

Da klickte es endlich in Lisas Gedanken. Gelbe Räume. Ein Gefühl der Beklommenheit. Menschen ohne Gesichter, und: Hounds. Sie war in den Backrooms. Die Idee war absurd. Die Backrooms, das war eine dumme Geschichte aus dem Internet. Der Sohn einer Freundin hatte davon erzählt. Ausschweifend. Und davon, dass immer wieder Teenager versuchten, Eingänge in diese Welt hinter - oder neben - der Realität zu finden.

Peter Pergrine, der Mann ohne Gesicht, war einer der Bewohner der Backrooms: Ein Faceling. Und Hounds, nun…

Lisa fackelte nicht lange.

„Kommt! Ich bringe euch zum Ausgang!”

***

Lisa Colemans Gedanken wirbelten wild durcheinander. Sie konnte nicht fassen, dass diese Urban Legend, von der sie auch nur durch Zufall wusste, wahr sein sollte. Sie unterdrückte ein hysterisches Lachen. Was kam als Nächstes? Die acht Zettel von Slenderman?

„Was macht ihr eigentlich hier?”, fragte sie, ohne ihr Tempo zu verringern. Die beiden Teenager konnten gerade so mit ihr Schritt halten. Aber wenn es hier wirklich einen Hound gab, wollte sie dem wirklich nicht begegnen. Wenn sie so darüber nachdachte, konnten die Wunden an Peregrine auch von einem dieser vierbeinigen, hundeartigen Wesen stammen.

„Videos!”, keuchte der Junge. Er wedelte mit seinem Smartphone.

Lisa schluckte ihre Meinung dazu mit Mühe herunter. Teenager. Brachten sich selbst durch dumme Aktionen in Gefahr. Alles nur für ein bisschen Internetberühmtheit.

„Sind wir bald da?”, fragte das Mädchen.

„Bald”, antwortete die Sonderermittlerin nur. Sie musste bei jeder Kreuzung etwas langsamer werden, um ihre Markierungen zu überprüfen.

Dann kam es aus einem Gang links von ihnen geschossen. Schwarzes, verfilztes Haar wehte wild um einen großen, merkwürdig eiförmigen Kopf. Es geiferte und spuckte, sein viel zu weiter Mund enthüllte bei jedem Schnappen eine Reihe rasiermesserscharfer, gelber Zähne. Der Hound ging auf allen Vieren. Trotzdem wirkten seine rosa Haut und sein unförmiger Gang irgendwie menschlich.

Lisa hatte keine Zeit, zu reagieren. Ihr Kugelschreiber stellte keine Waffe gegen etwas derart Unnatürliches dar. Jeder humpelnde, platschende Schritt brachte den Hound näher zu ihnen. Nun gut. Dies war ihr Job. Sie hoffte nur, dass John Amber ihre Leiche finden würde.

Lisa Coleman straffte die Schultern und blieb stehen. Die Teenager rannten an ihr vorbei. Sie konnte ihre Schritte hören. Gut. Der Hound sprang. Instinktiv riss sie die Arme hoch, um sich zu verteidigen. Ein einziger Biss dieses Monsters, und es wäre vorbei. Sie würde sich, wie bei einem Werwolf, auch in einen Hound verwandeln. Wenn der Hound sie nicht vorher tötete.

Sie begegnete dem Blick aus kalten, reinweißen, bösartig funkelnden Augen. Eine merkwürdige Ruhe breitete sich in Lisa aus. Sie sah, wie der Hound zum Sprung ansetzte.

Seine Hinterbeine, nackt, haarlos, die Pfoten fast wie Füße, stießen vom Boden ab. Der Geruch nach verrottendem Fleisch, gemischt mit einem tierischen Moschusduft, wehte ihr entgegen.

Der Hound heulte triumphierend. Er streckte die Hände nach ihr aus. Am Ende jedes verkrümmten Fingers saßen kurze, schwarze Krallen. Lisa wappnete sich für den Aufprall. Für das Ende.

„Achtung!”

Etwas riss Lisa Coleman von hinten um. Sie stolperte, glitt unter den Körper des Hounds. Über ihr ertönten ein hässliches Knirschen und ein dumpfer Schmerzenslaut.

***

Lisa Coleman rappelte sich mühsam hoch. Hinter ihr lagen, ineinander verkeilt, der Junge und der Hound. Der Kopf des Hounds war verdreht. Das Genick gebrochen. Aber auch der Junge sah nicht gut aus.

„Tony!”, schrie das Mädchen und kam zurückgerannt. Sie packte die Hand ihres Bruders. „Was machst du denn, du Idiot?”, fragte sie.

Lisa packte ihren Arm und zog sie von ihrem Bruder weg. Ihr war eiskalt, als sie die Wunden über seinem Gesicht sah. Rot troff Blut aus unzähligen Kratzern. Er würde auch ein blaues Auge bekommen.

„Die Wunden, die von einem Hound zugefügt werden…”, begann Lisa sanft. Das Mädchen riss sich los.

„Weiß ich selber, dass Tony infiziert ist”, knurrte sie und warf sich neben ihrem Bruder zu Boden. „Du Dummkopf! Wieso musste ich nur auf dich hören?”

„Ich hab dich auch lieb, Anna”, murmelte Tony undeutlich. Er wandte sich an Lisa. „Bringen Sie meine Schwester hier weg. Dieser hier”, er stupste den zusammengebrochenen Hound über sich an, „ist zwar tot, aber ich werde Sie auch jagen.”

***

Magnus Archer reichte den beiden Frauen jeweils eine Tasse Tee. Vage Erinnerungen geisterten durch seinen Kopf. An einen Mann, der ganz ähnliche Erfahrungen in den Backrooms gemacht hatte. Oder war das nur ein Traum gewesen?

„Peter wurde also von dem Hound erwischt”, sagte er langsam. Die Sonderermittlerin nickte. Ihr Gesicht war blass, sie wirkte ebenso mitgenommen wie das Mädchen.

„Annas Bruder, Tony Bid, ebenfalls.”

Magnus legte den Kopf schief. „Wie lange ist das jetzt her?”, fragte er. Irgendwie hatte er das Gefühl, diese Entscheidung schon einmal getroffen zu haben. Und dass er dafür bereits in Schwierigkeiten geraten war. Aber…

„Vielleicht zwanzig Minuten”, sagte Ermittlerin Coleman. Sie zögerte, dann fragte sie: „Ich habe nirgends gelesen, dass es ein Gegenmittel gäbe.” Sie scrollte auf ihrem Smartphone. Vermutlich auf der Suche nach Informationen über die Backrooms.

Magnus Archer seufzte tief. „Ich will sehen, was ich tun kann. Lassen Sie das Mädchen hier, Ms. Coleman. Ich kümmere mich um alles.” Er schenkte ihr ein dünnes Lächeln, bildete sogar eigens Lippen dafür. „Keine Sorge, ich werde ihr nichts tun.”

***

Lisa Coleman kratzte sich am Hinterkopf, nachdem sie ihren Bericht an ihren Chef Frank Miller und ihren Kollegen John Amber beendet hatte.

„Jedenfalls war das Ganze ziemlich unheimlich.”

„So klingt es auch”, meinte John und legte ihr die Hand auf die Schulter. „Diese Backrooms… warum habe ich noch nie von ihnen gehört?”

„Es ist eine Urban Legend”, sagte Lisa, die sich noch einmal alles durchgelesen hatte, was es in verschiedenen Internetforen zu diesem Thema gab. „Angeblich kommt man an Stellen, an denen die Wirklichkeit dünner ist, durch das sogenannte Noclipping in die Backrooms.” Sie schauderte. „Nicht, dass ich da jemals wieder hin will.”

Die gelben Wände, die endlose Beklemmung… nein, Lisa wollte das alles nicht noch einmal erleben.

„Ich habe eben eine Nachricht von Magnus bekommen”, unterbrach Miller sie. „Er konnte den Jungen retten. Er und seine Schwester werden als Wiedergutmachung über die Ferien bei ihm im Archiv arbeiten.” Miller nickte in Richtung von Lisas zweitem Bericht. „Und er bittet darum, Peter Peregrine beerdigen zu dürfen, nachdem ja jetzt klar ist, dass er von diesem Hound-Wesen getötet wurde.”

Lisa nickte. „Kein Problem. Ich werde die Leiche nachher freigeben.”

„Aber erstmal”, unterbrach John sie mit einem Kopfnicken in Richtung Ausgang, „gönnen wir beide uns einen heißen Kaffee und einen Burger. Du siehst aus, als könntest du etwas gutes altes Comfort Food vertragen.”

Lisa Coleman lachte auf. Das ließ sie sich nicht zweimal sagen. Morgen würde es schließlich weitergehen im Sonderdezernat "Zwischenwelt".

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