Kapitel 1 - Kostenlose Leseprobe

Das New York Police Department hatte auch fünfzehn Jahre vor der Gründung des Sonderdezernats „Zwischenwelt“ mit merkwürdigen Fällen zu tun, wie Detective Lance Carmichael am eigenen Leib erfahren musste. Er saß im Großraumbüro des One Police Plaza, erschöpft nach einem weiteren langen Tag, und rieb sich die Augen. Die grellen Leuchtstoffröhren über ihm summten leise, und das Klicken der Tastaturen seiner Kollegen klang wie fernes Regenprasseln. Doch für Carmichael gab es nur einen Fokus: die Videoaufnahmen, die er schon stundenlang durchforstet hatte.

Dominic Clearwater, der verschwundene Sohn der Bürgermeistergattin Annie Clearwater, war auf keiner einzigen Aufnahme zu sehen. Auf dem Bildschirm wimmelten Menschen wie Ameisen, Gesichter unscharf, Bewegungen ruckelig. Wie sollte er in diesem Chaos ein Kind finden? Carmichael beugte sich näher an den Bildschirm, spielte die Sequenz in Zeitlupe ab, untersuchte jede Tür der Subway Trains, jede Gestalt, jedes Detail. Doch Dominic Clearwater blieb unauffindbar.

Seufzend lehnte er sich zurück, sein Rücken knackte laut. Der Fall zehrte an ihm. Erst hatten die Cops gehofft, es würde sich um eine Entführung handeln. Lance hatte tagelang bei Mrs. Clearwater gesessen und auf einen Anruf gewartet, auf eine Lösegeldforderung. Aber da war nichts passiert. Inzwischen kostete die Suche seine ganze Kraft und belastete sogar seine eigene Beziehung. Seine Tochter sah er kaum noch wach, und doch konnte er nicht einfach aufgeben.

Die traurige Wahrheit war, dass jedes Jahr über 10.000 Kinder in New York verschwanden. Die meisten davon waren zum Glück nur Ausreißer. Diese wurden schnell gefunden und nach Hause gebracht. Oder in verschiedene Einrichtungen, in denen ihnen geholfen wurde. Aber der Teil, der nie wieder auftauchte, machte dem Cop zu schaffen. Er wollte nicht, dass Dominic Clearwater zu einem weiteren Vermisstenzettel auf seinem Schreibtisch wurde. Er wollte nicht, dass einer weiteren Mutter und einem weiteren Vater jahrelange Ungewissheit beschert wurde.

Mit einem weiteren tiefen Seufzer schaltete Lance Carmichael den Computer aus. Es war spät, und der Chief of Police Department Frank Miller warf ihm schon länger auffordernde Blicke zu, endlich Feierabend zu machen. Schließlich zog er seinen Mantel über, rief seinen Kollegen ein müdes „Bis morgen!“ zu und schrieb eine SMS an seine Familie, dass er auf dem Weg sei.

Sein kleiner Wuschelkopf von einer Tochter konnte ganz schön unleidig werden, wenn er nicht rechtzeitig zur gemeinsamen Mahlzeit da war. Carmichael lächelte bei dem Gedanken an ihre Erzählungen – sie war jetzt in einem Alter, in dem sie Jungs interessant fand. Er erinnerte sich bei dem Glitzern in ihren Augen dann an seine eigene Jugend. An seine eigene erste Liebe. Dabei kam es Carmichael vor, als hätte er seiner Tochter gerade erst noch aus ihrem Lieblingsmärchen, Frau Holle, vorgelesen. Und jetzt wollte sie Jungen küssen. Wie schnell doch die Zeit verging.

Der Winter hatte New York fest im Griff. Schnee wirbelte in dichten Flocken zu Boden, und eiskalter Wind biss Carmichael ins Gesicht, als er sich durch die Menge zur Brooklyn Bridge Station schob. Die glitschigen Metallstufen waren mit halbgefrorenem Matsch bedeckt, und die Wände des U-Bahnhofs waren übersät mit Graffitis und wild übereinander geklebten Plakaten. Der unterirdische Gang hallte von gedämpften Durchsagen wider, und die Menschenmassen drängten sich Richtung der Gleise.

Lance Carmichael wollte gerade in die U-Bahn einsteigen, da fiel sein Blick auf eine Frau am Gleis 5. Ihr Haar erinnerte an frisch gefallenen Schnee und flatterte wie Spinnenseide im Wind. Er bildete sich sogar ein, rosige Wangen und frostblaue Augen ausmachen zu können. Die Fremde trug eine Art Umhang, viel sauberer als alle anderen Kleidungsstücke hier. Dieser war so reinweiß, dass Lance kurz die Augen zusammenkneifen musste.

Doch es war der Junge an ihrer Hand, der Carmichael den Atem stocken ließ. Es war eindeutig Dominic Clearwater. Blond, schmal, mit der viel zu dünnen blauen Jacke, die er auf den Überwachungsvideos vergeblich gesucht hatte.

„Scheiße“, murmelte Carmichael und griff nach seinem Handy. Während er sich durch die Menge drängte, sprach er hastig eine Nachricht ein: „Schatz, ich werde es nicht zum Abendessen schaffen. Ich habe den Jungen gesehen. Scheiße, Honey, ich habe ihn wirklich gesehen! Eine komische Frau hat ihn an der Hand gehalten. Er ist am Leben! Dominic Clearwater ist am Leben!“

Es waren die letzten Worte, die seine Familie je von ihm hören würde.

Mit einem Satz sprang er auf den Bahnsteig, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie die Frau mit Dominic in einen Zug stieg. Es war ein alter orangefarbener Zug, eine Baureihe, die längst außer Dienst gestellt worden war.

Carmichael hechtete los und schrie: „NYPD! Bleiben Sie stehen!“

Dann sprang er durch die sich schließenden Türen.

Kaum war er im Zug, fror er. Die Temperatur fiel augenblicklich, sein Atem kondensierte in schneeweißen Wölkchen. Die Sitze in der Kabine waren besetzt – aber nicht mit Pendlern. Kinder saßen dort, und manche waren an Haltestangen gelehnt oder an die Wände gedrückt. Ihre Gesichter waren leichenblass, die Augen riesig und dunkel, fixiert auf die Frau in ihrer Mitte. Viele von ihnen erkannte Carmichael von Vermisstenanzeigen. Andere waren ihm unbekannt. Ihre Kleidung war zerrissen, und manche hatten Wunden, die jedoch weder bluteten noch die Kinder zu beeinträchtigen schienen. Nur Dominic wirkte vollkommen unverletzt, lediglich seine Lippen waren eiskalt-blau.

Carmichael griff nach seiner Polizeimarke.

„Lassen Sie die Kinder gehen!“, rief er, seine Stimme bebend vor Kälte und Entschlossenheit.

Die Frau drehte sich langsam zu ihm um. Ihre Augen waren frostblau, ihr Blick unerbittlich wie ein Schneesturm. Sie lächelte schwach, und Carmichael spürte eine unheimliche Macht, die von ihr ausging.

„Das hätten Sie nicht tun sollen, Detective Carmichael“, sagte sie leise. „Dies wird Ihre letzte Reise sein.“

Bevor Carmichael reagieren konnte, setzte sich der Zug ruckartig in Bewegung. Die Lichter flackerten, und die Umgebung außerhalb der Fenster verschwamm zu einem wirbelnden Grau. Der Detective spürte, wie die Kälte in seine Glieder kroch, wie seine Finger taub wurden, seine Bewegungen schwerfälliger. Die Kinder starrten weiterhin reglos die Frau an, als gäbe es in ihrer Welt nichts außer dieser geheimnisvollen Wintermutter.

Carmichael wollte etwas sagen, doch seine Kehle schien wie eingefroren. Die Frau trat auf ihn zu, ihr Umhang bewegte sich, wie von einem unsichtbaren Wind erfasst.

„Dominic ist nicht mehr dein Problem, Detective“, flüsterte sie. „Keines dieser Kinder ist es. Sie gehören mir.“

Der letzte Gedanke, der Carmichael durch den Kopf schoss, war an seine Tochter – ihr fröhliches Lachen, ihre verträumten Geschichten, ihre großen Pläne. Dann wurde alles schwarz.

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