Kapitel 1 - Kostenlose Leseprobe

Der Geruch des brennenden Feuers hing schwer über dem Parkplatz des kleinsten Leichenschauhauses von New York, und dichter Rauch verbarg die Gestalt, die sich geduckt über den Asphalt schlich. Die letzten Sonnenstrahlen kündigten den Feierabend der Leichenbestatter an, die nun auch wie Ameisen aus dem Gebäude strömten.

„Es brennt! Da brennt ein Wagen!“, ertönte eine laute, alarmierte Stimme. Der Mann im Labormantel, zu dem sie gehörte, wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht herum. „Ruft die Feuerwehr!“

Die Gestalt, die nun zum Eingang der Leichenhalle hastete, beachtete ihn nicht. Genauso wenig kümmerte sich das fremdartige Wesen um die aufheulenden Sirenen in der Ferne oder die Tatsache, dass mehr und mehr Menschen aus dem Haus kamen. Menschen waren eben neugierig, und genau das würde sich Rei zunutze machen.

Geschützt durch den dichten, stinkenden Rauch kroch er auf die schmale Seitentür zu. Sein langer, gegabelter Katzenschwanz zuckte aufgeregt und seine spitzen Ohren nahmen jedes noch so kleine Geräusch wahr.

Rei erstarrte, als sich eine Gestalt aus den schwarzen Schwaden schälte. Lange Beine, die in vernünftigen Schuhen steckten, dazu das Husten einer jungen Frau. Der Kasha, der Katzendämon Rei, drückte sich dicht an den Boden. Er zuckte mit keinem Muskel, nicht einmal Atem hob und senkte den gefleckten Brustkorb. Jedes seiner Schnurrhaare zitterte vor Anspannung.

„Mist auch …“ Die Frau mochte Ende zwanzig sein, mit langen, braunen Haaren und honigdunkler Haut. Sie wedelte mit der Hand vor dem Gesicht herum. „Wer zündet denn Autos vor der Pathologie an?“

Reis goldene Augen mit den geschlitzten Pupillen folgten ihren Bewegungen. Etwas an der Art, wie sich die Frau bewegte, erschien ihm beinahe zu entspannt. Die allermeisten Menschen verfielen bei Feuer in Panik. Die anderen Ärzte schrien jedenfalls durcheinander. Aber diese Person hier blieb ruhig und kontrollierte routiniert den Sitz ihrer Waffe. Dann griff sie nach einem Funkgerät.

„John? Hier ist Lisa Coleman“, sagte die Fremde. „Ich bin am Leichenhaus in der Laconia Ave. Bei uns auf dem Parkplatz steht ein brennender Wagen.“

Während Rei hinter ihr herumschlich, um unauffällig durch die Tür in die Pathologie zu kriechen, hörte er noch:

„Autos brennen nicht einfach so, und schon gar nicht so schnell. Ich glaube, hier könnte die Zwischenwelt involviert sein …“

Dann fiel die Tür hinter dem Katzendämon ins Schloss, und Rei richtete sich auf zwei Beine auf. Im grellen Licht der Neonleuchten enthüllte sich seine ganze, schreckliche Gestalt: Oberflächlich mochte der Kasha einer menschenartigen Katze gleichen. Er hatte eine kurze Schnauze, spitze Ohren, Schnurrhaare und einen kohlschwarzen Pelz. Sein Bauch war mit weichem, weißem Fell bedeckt, und wie viele der japanischen Bakeneko, der Katzendämonen, war sein langer Schwanz am Ende gegabelt. Aber um Reis Schultern und Rücken loderte das Geisterfeuer in tiefem, totenfahlem Türkis.

Auf seinen langen Hinterbeinen stakste Rei durch den langen Gang der Pathologie. Er hob die Nase in die Luft und sog den süßen Duft nach Tod, Einbalsamierungsflüssigkeit und Desinfektionsmittel tief ein. Ein grässliches Grinsen voll viel zu scharfer Zähne teilte sein Gesicht.

„Hmmmm“, schnurrte der Kasha Rei. „Ja, hier werde ich die richtigen ‚Zutaten‘ für meinen Umzugswagen finden.“

Er strich mit langen, spitzen Krallenfingern über eine der Stahltüren. Sein Ablenkungsmanöver hatte hervorragend geklappt: Sobald das Auto draußen mit seinem Geisterfeuer in Berührung gekommen war, hatte es schon lichterloh gebrannt. Woraufhin die Menschen alle wie aufgescheuchte Hühnchen auf den Parkplatz gerannt waren.

Und Rei hatte die Pathologie ganz für sich allein.

Die Tür des ersten Schauraums war versperrt, aber unter seinen grünen Flammen schmolz das Schloss zu grauem Brei. Rei kicherte amüsiert.

Er drückte sich durch die schmale Öffnung und fand sich in einem großen Zimmer wieder, das von einem Metalltisch dominiert wurde. Daneben lag allerlei medizinisches Gerät. Alles glomm und glitzerte sauber, Pinzetten, Skalpelle und verschiedene Schalen, in denen Organe gewogen und vermessen werden konnten.

Rei blickte sich aufmerksam um. Seine feine Nase verriet dem Kasha, dass er hier richtig war. Genau richtig.

„Eins“, flüsterte er und strich mit der Hand über eine der Metalltüren, die in die Wand eingelassen waren. Dahinter lagen in Kühleinheiten die Leichen, die die Pathologen untersuchen würden. Leises, hohes Quietschen folgte der Spur seiner Krallen.

„Zwei“, fuhr Rei fort und berührte eine weitere Metallfläche. Unter seiner Berührung stöhnten die Riegel protestierend.

„Drei, vier“, sang der Katzendämon und hopste ein wenig. Seine goldenen Augen strahlten vor manischer Freude.

„Und fünf …“ Er kicherte. „Fünf neue Freunde. Fünf Begleiter für meinen Umzugswagen, fünf Geister, die nur darauf warten, geweckt zu werden. Mein Beitrag für den Umzug der Tausend Geister …“ Sein Giggeln hallte von den Wänden wieder.

Wie von Geisterhand glitten fünf metallene Kühleinheiten auf. Eiskalter Todeshauch quoll aus ihnen hervor, während die Bahren darin nach vorn glitten. Fünf Leichen kamen zum Vorschein, die Gesichter totenblass, die Wimpern von feinem Frost bedeckt.

Reis Lachen schwoll an und sein Schwanz zuckte wild.

„Fünf Leichen für Rei!“

Mit geschickten Pfoten packte sich der Katzendämon die Leichen auf den Rücken. Sie waren eiskalt, steif und schwer, aber den Kasha störte das nicht. Er war ein Wesen der japanischen Zwischenwelt, ein paar Tote waren da keine Bürde.

Ungesehen und ungehört tappte Rei in Richtung des Haupteingangs. Die Leichenbeschauer waren alle hinten beim Parkplatz, und so stand sein Karnevalswagen, ein großes, mit roten Geisterflammen bemaltes Fahrzeug, einsam und verlassen.

Behände sprang Rei mitsamt den fünf gestohlenen Körpern auf die Ladefläche. Er legte sie nebeneinander und verschränkte die Finger der vier Männer und der einen Frau. Sie hatten verschiedene Alter, verschiedene Herkünfte, verschiedene Leben gehabt. Nun aber würden sie nur noch einem einzigen Zweck dienen.

Der Katzendämon jaulte laut und durchdringend. Der Wagen sprang an, und mit aufheulendem Motor jagte der Leichendieb hinaus auf die Straßen von New York.

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