Die Kopfschmerzen weckten Magnus Archer mitten in der Nacht. Einen Moment lang starrte er blicklos an die hohe Holzdecke. Hinter seinen Lidern pochte es schmerzhaft. Der ratternde Motor eines vorbeifahrenden Autos bohrte sich in seine Gedanken.
Magnus Archer taumelte aus seinem Bett. Er schaffte es gerade noch ins Badezimmer, bevor er sich übergeben musste. Das kühle Porzellan der Toilette war erstaunlich wohltuend gegen seine verschwitzten Hände. Nachdem er sich den Mund ausgespült hatte, fühlte er sich ein wenig besser.
Langsam ließ er sich auf den Rand der Badewanne sinken. Vage Erinnerungen an ein Hotelzimmer, an ein riesiges, unangenehm blauhäutiges Wesen, tanzten durch Magnus Archers Geist. Das Pochen hinter seinen Schläfen nahm zu. Hatte er das Biest verärgert?
Mit einem Seufzer hievte er sich auf die Beine. Die Kopfschmerztabletten lagen noch im Erdgeschoss. Er hatte sich schon den gesamten Nachmittag gestern unwohl gefühlt. Ein Déjà Vu geisterte in seinem Kopf, als hätte er den ganzen Tag schon einmal erlebt. Als hätte er die Nachricht der Gerichtsmedizinerin, dass sein Freund Peregrine von einem wilden Hund getötet worden war, schon einmal gehört. Und das verursachte ein stetiges Pulsieren in Magnus Archers Kopf.
Wenigstens war in „Archer’s Archive“ alles friedlich und verlassen. Alle Türen waren verschlossen. Alle Fenster heil. Er nahm eine Kopfschmerztablette vom Tresen und schluckte sie. Dabei fiel sein Blick auf die Kellertür. Die Kellertür, die einen spaltweit offen stand.
***
Mambo Wideline, auch bekannt als Grandma Mambo, sah von ihrem Tisch auf.
„Wer ruft denn um diese Uhrzeit an?“, fragte sie kopfschüttelnd. Es war kurz vor fünf, fast Zeit für ihren Feierabend. Sie warf der jungen Touristin, deren Schicksal sie gerade aus Tarotkarten las, einen entschuldigenden Blick zu.
„Bitte verzeihen Sie die Störung.“ Nicht nur, dass die Erinnerung an die moderne Technik die Atmosphäre in Grandma Mambos Laden zerstörte. Sie hatte ja nicht zum Spaß hölzerne Totems und Kräuterbündel aufgehängt. Und der durchdringende Patschuli-Geruch, der dank der schweren Rauchschwaden in der Luft hing, gefiel auch allerhöchstens ihrem persönlichen Schutzgeist-Loa. Ihren alten Freund John Amber brachte der süßliche Duft immer zum Niesen.
Nein, die Leute, die in ihren Laden kamen, erwarteten einen gewissen Flair. Natürlich war den meisten von ihnen klar, dass Grandma Mambo nicht wirklich in die Zukunft sehen konnte. Aber sie wollten daran glauben, dass die dunkelhäutige, ältere Dame mit der farbenfrohen Kleidung mystische Kräfte hatte. Da störte die Erinnerung an die moderne Welt und daran, dass Wideline eben Geschäftsfrau war, doch gewaltig.
Als die junge Asiatin schließlich „Mambos Magick“ verließ, gab sie nicht einmal Trinkgeld. Mit einem tiefen Seufzer schob die Voodoo-Priesterin den Vorhang zur Seite, der zum Hinterzimmer mit der Kasse führte. Mit einem Stirnrunzeln sah sie auf ihr Smartphone. Darauf saß, die orangerote Kehlfahne ausgeklappt, eine Eidechse. Genauer gesagt handelte es sich um eine Karibik-Anolis. Und noch genauer um das Ruftier von Grandma Mambos ältesten Begleiter, Alcide De La Croix.
***
Es war der Lärm, der es aufschreckte. Das Jucken an seinen Beinen, an den Hüften und den Ohren hatte es dazu getrieben, sich an einer der unzähligen gelben Säulen zu scheuern. Geringfügige, temporäre Erleichterung.
Das Wesen hielt inne und lauschte. Da war etwas Fremdes in seinem Territorium. Etwas, das ziemlich viel Lärm verursachte. Etwas Großes. Geräuschvoll atmete das Wesen ein. Der Geruch von Stoff, dazu der Schweiß von Beute. Sein Magen gurgelte. Es war schon sehr lange her, seit es etwas derart Leckeres gerochen hatte.
„Wir haben es geschafft.“ Die Laute hatten keinerlei Bedeutung für die Kreatur. Sie duckte sich an die gelbe Tapete. Jagen war hier schwierig. Aber das Wesen war perfekt angepasst. Wenn es schlich, konnte man es fast nicht hören. Und es war schneller als die allermeisten Zweibeiner. Die leckeren, leckeren Zweibeiner. Deren Knochen beim Draufbeißen so schön knackten…
„Super, wir sind hier. Jetzt lass uns wieder verschwinden.“
Heute war sein Glückstag. Das war eine zweite Stimme. Es linste unter dem schwarzen Fell, das sein Gesicht verbarg, hervor. Gleich zwei unvorsichtige Happen. Es leckte sich über die spitzen Zähne. Sein Herz pochte vor Vorfreude auf die bevorstehende Jagd. Menschenfleisch. Ja, das war ein besonderer Fang.
„Ach, sei keine Memme.“ Ein heiseres Geräusch, das bei Zweibeinern Freude ausdrückte. Sie könnten ja auch einfach mit dem Schwanz wedeln. Das würde weniger Lärm verursachen. „Nicht jeder schafft das Noclipping und kommt hierher. Jetzt lass uns wenigstens ein bisschen was erforschen!“
Das Wesen lauschte konzentriert. Die beiden Zweibeiner waren nicht allzu weit von ihm entfernt. Speichel tropfte von seinen Lefzen. Die Jagd begann.
***
Grandma Mambo betrachtete den Laden. „Archer’s Archive“ war voller mystischer Gegenstände. Ihr Freund John Amber hätte die Bücher geliebt, alte Wälzer mit verblassten Lettern. Vermutlich hätten Lisa Coleman die engen Gänge gestört. Grandma Mambo aber sah nur, dass der Raum vor magischer Energie geradezu leuchtete. Die meisten Gegenstände, von den Fetischen in Affen- und Rabenform bis hin zu Schriftrollen und alten Schmuck-Grabbeigaben, surrten vor Energie.
Am Telefon hatte der Besitzer, Magnus Archer, nicht viel sagen wollen. Aber die Präsenz der Eidechse bedeutete, dass Grandma Mambo sich das ansehen musste. Wenn der Loa Alcide De La Croix, Grandma Mambos Schutzgeist, ihr ein Zeichen schickte, war es wichtig. Also hatte sie sich direkt nach Feierabend mit einer einfachen, grauen Räucherschale im Gepäck auf den Weg quer durch New York gemacht.
Nur, um sich Auge in – nunja. Nicht Auge in Auge, denn Magnus Archer hatte sich offensichtlich nicht die Mühe gemacht, sich zu tarnen. Der Faceling hatte keine Augen. Und keine Nase. Nur der Mund war deutlich erkennbar in einem schmalen, bartlosen Gesicht.
„Ich muss schon sagen“, meinte Grandma Mambo und musterte den Faceling kritisch, „damit habe ich nicht gerechnet.“
Der Faceling lächelte.
„Bitte verzeihen Sie mein Auftreten, Mambo Wideline. Es geht mir heute nicht besonders gut.“
Das konnte der schmerzhaft dünne Mann wohl laut sagen. Seine Haut war blass. Dort, wo seine Augen hätten liegen sollen, war die Haut dunkel verfärbt, als hätte er nicht genug Schlaf bekommen. Außerdem rieb er sich immer wieder die Schläfen. Kopfschmerzen vielleicht? Konnten Facelings Kopfschmerzen bekommen?
Grandma Mambo wusste nicht viel über diese Wesenheiten. Nur dank eines Gesprächs mit einigen Loa, die erst vor Kurzem verstorben waren, wusste sie überhaupt, dass es Facelings gab. Diese Wesen, deren Gesichter wie von Wasser verwaschen waren, lebten normalerweise nicht in der Welt der Sterblichen. Sie waren zwar nicht direkt Kreaturen der Zwischenwelt, denn ihre Heimat existierte irgendwo zwischen den beiden Realitäten. Aber sie waren definitiv nicht menschlich.
„Wo also liegt nun das Problem, Mr. Archer?“, fragte Grandma Mambo vorsichtig.
Magnus Archer kratzte sich am Kopf. „Folgen Sie mir doch bitte.“ Er führte die Voodoo-Priesterin zu einer kleinen, halb versteckten Kellertür. Die Treppe dahinter war schmal, die Wände dunkel und ein wenig feucht.
„Ich bin mir selbst nicht ganz sicher“, gab Archer zu. „Ich bin mit scheußlichen Kopfschmerzen aufgewacht. Ich glaube, das Biest – Sie wissen, wer das Biest ist? Gut – ich glaube, es hat mich für irgendetwas bestraft.“
Das Biest. Noch so eine Entität, von der Grandma Mambo nicht viel gehört hatte. Wie die Facelings lebte es zwischen den Realitäten in den sogenannten Backrooms. Eine Zone außerhalb der Wirklichkeit, und außerhalb der Zwischenwelt. Aber im Gegensatz zu den Facelings, die man praktisch überall in den Backrooms fand, lebte das Biest nur in Level 5. Es handelte sich um eine Art Manager. Wenn Manager ihre Angestellten, und die Menschen, die hin und wieder in die Backrooms stolperten, fressen würden.
Magnus Archer zeigte auf eine Wand, die eindeutig ein Portal war. Nicht nur, dass sie vollkommen anders aussah als die übrigen Kellerwände. Die beiden Wanderrucksäcke, die vor dem hellgelblichen Beton auf dem Boden standen, waren ein eindeutiges Indiz.
***
Geduld. Nur Geduld. Das Wesen arbeitete sich Stück für Stück näher an seine Beute. Einmal hatte es einen Blick auf weiße Sneakers erhascht. Der Geruch des weiblichen Zweibeiners war süß und köstlich vor Angst. Der männliche Zweibeiner dagegen stank nach falscher Zuversicht. Das Wesen drückte sich in eine gelbe Ecke.
„Wir hätten die Rucksäcke mitnehmen sollen“, flüsterte der weibliche Zweibeiner. Das Wesen machte einen Schritt, setzte die rosafleischige Pfote geräuschlos auf. Nicht mehr lange, und frisches, rotes Blut würde seinen Durst stillen. Nicht mehr lange, und saftiges Fleisch würde seinen Magen füllen.
„Ach, sei kein solcher Angsthase“, murrte der männliche Zweibeiner. „Alter, wenn ich die Fotos in der Schule herzeige, dann…!“ Er verstummte.
Das Wesen erstarrte. Es war so nahe, dass es schon die Haut unter seinen Zähnen reißen fühlen konnte. Jetzt oder nie.
„Shhht. Hörst du das?“
Das Wesen fuhr auf und rannte los. Seine Pfoten schlugen rhythmisch auf den Boden. Es bog schlitternd um eine Ecke.
„Weg hier!”, schrie der weibliche Zweibeiner. Zu spät, viel zu spät.
***
„Und das ist alles, woran Sie sich erinnern?“, fragte Grandma Mambo stirnrunzelnd. Viel war es ja nicht.
Magnus Archer hatte berichtet, dass er das Gefühl hatte, vom Biest in der Zeit zurückgeschickt worden zu sein. Dass er schon mehrfach Leute hinter den beiden Narren, die in die Backrooms gelangt waren, hergeschickt hatte. Und dass dabei jedes Mal etwas schiefgegangen sein musste. Dass er gegen irgendeine Regel verstoßen haben musste, sodass er seinen Fehler ausbügeln sollte.
„Tut mir Leid, das ist wirklich alles“, beteuerte der Faceling.
Grandma Mambo glaubte ihm. Das Problem war, dass sie selbst definitiv nicht in die Backrooms gehen wollte. Sie war nicht John Amber mit seiner Polizeiausbildung. Und schon gar nicht Lisa Coleman, die sogar in der FBI Academy in Quantico gewesen war. Sie war nur eine Haitianerin mit Verbindungen zur Zwischenwelt. Zum Glück hatte sie ihr Räucherwerk dabei.
„Ich werde einen alten Freund bitten, sich der Sache anzunehmen“, sagte sie. „Machen Sie sich keine Sorgen, wenn ich gleich hier zusammensacken werde. Ich werde eine Geistreise unternehmen.“ Damit stellte Grandma Mambo ihre einfache, grausilbrig-metallische Räucherschale auf.
Sie füllte das Gefäß mit gepresster Kohle des Palo-Santo-Baums und zündete diese an. Beinahe sofort ringelte sich eine dünne, graue Rauchsäule in die Luft. Ihr süßer Duft vernebelte die Sinne. Grandma Mambo schloss die Augen.
***
Sie fand sich in einem merkwürdig gelben Raum wieder. Grandma Mambo hob den Kopf – sogar die Decke, an der Leuchtstoffröhren surrten, war gelb. Genauso gelb wie die Säule links von ihr, an der eine vertraute Gestalt lehnte.
Der Loa Alcide De Lacroix nickte ihr zu.
„Na, auch hier, Linette?“, fragte er mit seiner rauchigen Stimme. Grandma Mambo mochte die Verniedlichung ihres Namens Wideline nicht. Was dann auch der Grund war, aus dem Alcide sie so nannte.
Der Loa war einer ihrer Vorfahren, der während der haitianischen Revolution irgendwann um 1800 verstorben war. Das sah man ihm auch an: Vom einfachen Leinenhemd über den ausgefransten Strohhut wirkte er wie ein ehemaliger Sklave einer Zuckerrohrplantage. Aber die gesprengte Fußfessel und die kleine Eidechse auf seiner Schulter bewiesen, dass er ein mächtiger Loa war. Die Machete, die an seinem Gürtel baumelte, tat ihr Übriges.
„Du hast mich immerhin gerufen.“ Grandma Mambo zuckte mit den Schultern und blickte sich um.
Geistreisen waren immer eine merkwürdige Erfahrung. Sie konnte ihren eigenen Köper spüren, der zusammengesackt in „Archer’s Archive“ saß. Gleichzeitig war sie aber in den Backrooms, einer gelben Einöde aus aneinandergereihten, immer gleichen Räumen. Ihre Augen in New York waren geschlossen, aber sie konnte problemlos sehen.
Alcide stieß sich von der Säule ab und kam mit ausgestreckter Hand auf sie zu. Obwohl Grandma Mambo wusste, was sie erwartete, erschauderte sie. Die Hitze, die von Alcide ausging, war beinahe körperlich spürbar. Eine Fahne aus Rauch hüllte sie ein, brannte kurz über Grandma Mambos Haut. Sie konnte Feuer in Holz knacken und knistern hören. Dazu das Brausen von Wind, das wütende Fauchen von Flammen in einem Feld. Dann kam der Rauch, der in ihre Lungen kroch. Ihr Körper in New York hustete kurz und heftig.
Viel besser, sagte Alcide. Von innen gefällst du mir deutlich besser. Und jetzt komm. Die beiden Knalltüten, die sich in den Backrooms verlaufen haben, retten sich ja nicht von selbst. Seine Stimme hallte in Grandma Mambos Innerstem wieder. Die rauchige Präsenz des Loa legte sich über Grandma Mambos magische Quelle und verstärkte diese. Macht knisterte in ihren geisterhaften Fingerspitzen.
„Wo geht es lang?“, fragte sie.
Nach links, sagte Alcide nur.
***
Das Wesen setzte zum Sprung an. Es war so nahe an dem weiblichen Zweibeiner, dass der Geruch nach Angstschweiß ihm die Sinne vernebelte. Seine Beute konnte nicht mehr lange fliehen. Das Wesen sah schon die Erschöpfung in den Bewegungen. Das Stolpern. Dazu den keuchenden Atem.
Gleich, gleich. Gier brannte heiß in seiner Kehle.
„Scheiß-Hound!“ Der laute Ausruf des männlichen Zweibeiners überraschte das Wesen. Noch viel mehr das Ding, das plötzlich in seine Richtung geschleudert wurde.
Es knallte vor ihm auf den Boden. Ein Angriff! Hastig sprang das Wesen zurück. Was war es? Es glitzerte silbern und schepperte. Das kreischte in seinen empfindlichen Ohren. >Grollend stürzte sich der Hound auf das Glitzerding.
Er packte es mit den Zähnen. Es schmeckte metallisch und kalt. Viele kleine, scharfkantige Dinger um einen Ring herum war das. Manche der kleinen Metalldinger hatten sogar eigene, stumpfe Zähnchen. Mit einem heftigen Kopfschütteln warf der Hound das Ding fort. Es klirrte gegen die gelbe Tapete und fiel harmlos zu Boden. Ein Grollen entwich dem Wesen.
Es hob den Kopf. Von seiner Beute fehlte jede Spur. Clevere Beute. So machte die Jagd gleich noch mehr Spaß. Der Hound nahm die Verfolgung auf.
***
Der Loa Alcide verstärkte Grandma Mambos natürliche Fähigkeiten, indem er mit ihr verschmolzen war. So konnte ihr Geist sich frei bewegen. Außerdem musste sie sich keine Sorgen machen, zu zerfasern und zu verschwinden. Dafür musste sie sich Alcides Kommentare anhören.
Die Backrooms sind wirklich nervig, bemerkte der Loa gerade. Dieses ganze Gelb… und dazu die immer gleichen Räume. Ich meine, selbst zu meinen Lebzeiten, wo die Leute nicht viel hatten, gab es fantasievollere Einrichtungen.
„Das ist der Sinn der Sache“, murmelte Grandma Mambo, die die monotone Gleichheit der Backrooms ebenfalls unangenehm fand. Es gab hier keine Türen. Nur identische Räume, die durch offene Durchgänge miteinander verbunden waren. Alles war gelb: Boden, Wände, Tapete, Decke, sogar die immer gleiche Säule, die auf einer Seite des Raums aufragte. Über allem lag das gleichbleibende Surren der Leuchtstoffröhren. Grandma Mambo glaubte schon, den Strom in den Zähnen zittern zu spüren.
Achtung!
Alcides Schrei in ihren Gedanken warnte Grandma Mambo gerade noch rechtzeitig. Sie zuckte zurück, als eine dunkel gekleidete Gestalt in vollem Lauf um die Ecke stürmte.
„Laufen Sie!“, schrie das Mädchen. Es mochte kaum fünfzehn, vielleicht sechzehn Jahre alt sein. Sein Gesicht war leichenblass, die Augen riesig. Knapp hinter ihr schlitterte ein Junge heran, der dem Mädchen ähnlich sah. Sie hatten die gleichen Stupsnasen, die gleichen blauen Augen. Ein Geschwisterpaar.
„Immer mit der Ruhe“, versuchte Grandma Mambo, die beiden aufgeregten Teenager zu stoppen.
„Immer mit der Ruhe? Ein verdammter Hound ist hinter uns her!“, schrie der Junge aufgebracht. „Und Sie sind durchsichtig!“ Seine Stimme war hoch und völlig überdreht.
Was für ein aufgeregtes Kerlchen, kommentierte Alcide.
„Ich bin gar nicht wirklich hier“, erklärte Grandma Mambo mit ruhiger, fester Stimme. „Mein Körper sitzt in „Archer’s Archive“, in das ihr beiden eingebrochen seid.“
Die beiden hatten den Anstand, verlegen zu wirken.
„Wir sind urbane Entdecker“, sagte das Mädchen. Sie biss sich nervös auf die Unterlippe. „Ich bin Anna, und das ist mein Bruder Tony. Wir… wir untersuchen Mythen und – “
„Und bringt damit euch und alle anderen in Gefahr“, grummelte Alcide laut und aus Grandma Mambos Mund. Bon dieu, wie sie es hasste, wenn er das ohne Vorwarnung tat. „Für solch einen Unfug! Wenn ihr euch wenigstens wegen etwas Ernsthaftem gefährden würdet. Stattdessen ist es so etwas Flüchtiges wie Internet-Berühmtheit.“
„Lass den Unsinn“, knurrte Grandma Mambo. „Du machst den Kindern Angst.“ Sie wandte sich an die beiden jungen Leute, die wirkten, als wollten sie gleich vor Grandma Mambo selbst davonlaufen. „Bitte entschuldigt. Ich habe einen Schutzgeist, der nicht viel von Leichtsinn hält. Ich übrigens auch nicht…“ Sie war versucht, den beiden eine Standpauke zu halten. Aber sie war nicht ihre Mutter, und eigentlich ging sie das Ganze auch nichts an. Sie musste die Teenager nur aus ihrer misslichen Lage befreien. „Besser, ihr kommt mit.“
***
Der Hound rannte in vollem Galopp den beiden Häppchen hinterher. Futter, gurgelte sein Magen. Beute, sang seine Nase.
Das Wesen bog um eine Ecke, dann um eine weitere, immer der Geruchsspur und den panischen Schritten der Beute nach. Da war sie. Gleich, gleich, gleich.
Der Hound konnte die beiden Zweibeiner schon hören. Sie machten wieder Lärm mit ihren nutzlosen, kleinen Mäulchen mit den nutzlosen, stumpfen Zähnchen. Als ob ihnen das ein zweites Mal etwas helfen würde. Diesmal würde sich der Hound nicht ablenken lassen.
Er bog um die Ecke und sah die zwei. Sie standen mit dem Rücken zu ihm. Dumme Beute. Dumme, dumme Beute. Er streckte die Pfotenhände nach den beiden aus. Seine Krallen zuckten vor Vorfreude.
***
„Achtung!“, schrie Grandma Mambo und warf sich nach vorne. Sie riss die beiden Teenager von den Beinen, sodass der Hound über sie hinweg segelte.
Anna und Tony kamen hart auf dem Boden auf. Grandma Mambo ebenso, aber dank Alcides Hilfe war sie schnell wieder auf den Beinen.
Der Anblick des Hounds jagte ihr einen Schauder über den Rücken. Aus der Entfernung hätte man das Wesen, das auf dem Absatz herumwirbelte, vielleicht für einen Hund halten können. Aber es war groß wie ein gebückt laufender Mensch. Die rosarote, fleischige Haut war von Schrunden überzogen, als hätte der Hound Milben. Einzig am Kopf hatte er Fell, das eher öligen, fettig-schwarzen Haaren glich.
Grandma Mambo begegnete dem bösartigen Blick aus vollständig weißen Augen. Ihr Herz drüben in New York raste. Sie spürte, wie sie instinktiv die Hände zu Fäusten ballte. Der Hound grollte sie an und entblößte dabei rasiermesserscharfe Zähne. Geifer troff von seinen Lefzen.
„Dem zeigen wir’s“, knurrte Alcide. „Als ob wir uns von einem räudigen Köter ins Bockshorn jagen lassen! Ich habe schon Sklaventreiberärsche gesehen, die unheimlicher waren als du!“
Der Hound heulte.
„Hör auf, das Monster zu verärgern“, zischte Grandma Mambo und hob beide Arme. Hinter ihr kauerten die beiden Teenager. Das Problem mit Voodoo war, dass die meisten Zauber Rituale waren, die Stunden dauern konnten. Grandma Mambos einzige Chance war, eine von Alcides eigenen Fähigkeiten einzusetzen. Und sie hatte keine Ahnung, ob die irgendwas ausrichten würde. Wenigstens war der Zauberspruch denkbar einfach.
„Écran d‘fumée!“ Nur Schall und Rauch, ein Illusionszauber. Aber hoffentlich genug, um ein Wesen zu verwirren, das hauptsächlich auf seinen Geruchssinn baute.
Eine dichte Rauchwolke schoss aus ihren Händen. Die dazugehörigen Flammen brannten in ihrer magischen Quelle. Grandma Mambo konnte spüren, wie sie an ihrer Kraft zehrten. Lange konnte sie den Zauber nicht aufrechterhalten, auch nicht mit Alcides Unterstützung.
„Jetzt lauft schon!“, schrie sie den Teenagern zu. Die beiden hatten sich kaum aufgerappelt.
Wie eine Rakete schoss der Hound durch die Rauchwand. Der Geruch nach verrottendem Fleisch und Moschus machte Grandma Mambo würgen. Aber sie ließ nicht nach. Der Hound heulte triumphierend. Die schwarzen, verkrümmten Krallen dürsteten nach Grandma Mambos Blut.
„Nicht mit uns, dämliche Töle“, lachte Alcide. Als wären sie überhaupt nicht da, rauschte der Hound durch die beiden Geistreisenden hindurch. Etwas, das keinen Körper hat, kann auch nicht bluten.
Grandma Mambo hörte die beiden Teenager schreien. Sie wirbelte herum. Der Hound konnte ihr zwar nichts anhaben. Den beiden Jugendlichen aber sehr wohl. Sie rannte los.
***
Der Rauch stank und biss und kratzte in der Nase. Und dieser komische Zweibeiner, den der Hound zwar sehen, aber nicht berühren konnte, irritierte ihn ebenso. Aber noch war seine Beute in Reichweite. Noch konnte er seinen Hunger stillen.
Er kam schlitternd auf dem Teppichboden auf. Seine Krallen rissen gelbe Fasern aus, als der Hound weiter sprintete. Auf die beiden Fliehenden zu.
Plötzlich fuhr etwas von hinten gegen seinen Körper. Der Hound jaulte auf. Ein Druck bildete sich in seinem Kopf. Unverständnis. Was passierte hier? Es war, als würde ihn jemand aus seinen eigenen Ohren herausquetschen. Der Hound heulte vor Wut.
Er warf sich auf den Boden und krallte seine Klauenfinger in seine Haare. Eine Stimme dröhnte in seinem kleinen Gehirn.
Igitt, wie sieht es denn hier aus? Kein Wunder, dass du elende Kreatur Menschen frisst. Wie wäre es, wenn wir zu zweit ins Jenseits auswandern, hm?
Die Stimme war schrecklich irritierend. Aber egal, wie sehr er den Kopf schüttelte, egal, wie sehr er versuchte, sie loszuwerden: Die Wörter klebten wie klumpendes Blut in seinen Gedanken fest.
Mich loswerden? Dazu ist es ein bisschen spät. Komm, dämlicher Köter. Tu dein Bestes.
Die Stimme kratzte über sein Bewusstsein. Der Hound jaulte. Er hielt es nicht mehr aus und rannte los. Die gelbe Tapete, die vor ihm aufragte, sah er viel zu spät.
Es gab ein scheußliches Knirschen. Dann herrschte endlich wieder Stille in seinem Kopf.
***
Grandma Mambo schauderte, als sie beobachtete, wie der Loa wieder aus dem Körper des Hounds aufstieg.
Alcide De La Croix schüttelte sich.
„Was für eine ekelerregende Kreatur“, sagte er schaudernd. „Nichts als Blut, Gewalt und Boshaftigkeit in seinem Kopf.“
„Danke“, murmelte Grandma Mambo, dann scheuchte sie Tony und Anna aus den Backrooms.
***
Grandma Mambo richtete ihren Turban und nickte auf den Ordner vor sich auf dem Tisch.
„Jedenfalls dachte ich, ihr solltet darüber Bescheid wissen“, sagte sie zu John Amber und Lisa Coleman. „Ich glaube ja nicht, dass uns ein Hound Ärger macht, wenn wir nicht in die Backrooms gehen. Und den Aufenthalt dort kann ich wirklich nicht empfehlen.“ Sie schüttelte den Kopf.
„Und die beiden Teenager?“, fragte Lisa Coleman, nachdem sie Grandma Mambos Bericht überflogen hatte.
„Tony und Anna Bid? Die haben ihre Lektion gründlich gelernt“, sagte die Voodoo-Priesterin zufrieden. „Sie werden in dem Laden aushelfen, in den sie eingebrochen sind. Eine gute Sache ist das.“
John nickte nachdenklich. „Dein Schutzgeist, diesen… Alcide? Können wir den auch mal treffen? Klingt nach einem spannenden Individuum.“
Grandma Mambo lachte auf. „Mein Süßer, an dem Tag, an dem ich die Hilfe eines toten Mannes brauche, um mit dir klarzukommen, ist der Tag, an dem ich freiwillig das Zeug gurgle, das ihr Kaffee nennt.“
John Amber schüttelte den Kopf. „Das bedeutet…?“
„Dass Alcide De La Croix auftaucht und geht, wie es ihm passt. Ich könnte ihn zwar rufen, aber das ist ein langwieriges und aufwendiges Ritual, wenn er nicht ohnehin herkommen will. Lass uns doch stattdessen lieber auf ein Candlelight-Dinner gehen. Nur du und ich.“ Sie grinste.
„Nein danke, du alte Voodoo-Hexe. Aber wenn ich mal nach einem Gruselfilm noch einen Nachschlag brauche, wende ich mich an Dich.“
„Bei euch weiß man wirklich nicht, was man noch sagen soll“, seufzte Lisa Coleman. „Kommt, wir haben schließlich noch einen langen Tag vor uns. Das Sonderdezernat "Zwischenwelt" schläft schließlich nie…“
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