Schatten über New York
Short Storys

Urban Legends III 
Schwarzer Bildschirm – Eine Frank Miller-Geschichte

Kim Degennes hetzte zwischen den Bäumen des Central Park hindurch. Seine Gedanken rasten wie wild. Wann war alles so sehr aus dem Ruder gelaufen? War es damals gewesen, als er das erste Mal in einem Internetforum mit anderen Urbanen Entdeckern gesprochen hatte? Mit einem plötzlichen Ruck blieb der Gurt seines Rucksacks an etwas hängen. Er stolperte, sein Herz setzte für einen Schlag aus.

Scharfer Schmerz fuhr in seinen Kiefer, als er der Länge nach hinschlug. Die Taschenlampe klapperte, als sie auf den Kiesweg fiel. Ihr Licht erlosch. Dunkelheit schluckte Kims zitternden Körper. Sein eigener Atem kam ihm so laut vor, dass er beinahe die Geräusche des nachtschwarzen Parks nicht mehr wahrnahm.

Jede noch so kleine Bewegung ließ den Kies unter seinem Körper knirschen, ihn erstarren. Sein Herz raste – wo war er? Wo? Er glaubte, ihn hinter einer Buche aufblitzen zu sehen. Oder bildete er sich das nur ein? Kim war nicht dumm genug, um anzunehmen, dass die Jagd nach ihm aufgeben würde.

Das letzte bisschen Hoffnung war mit der verdächtigen Nachricht aus der Schule in seiner Nachbarschaft gestorben. Kinder ließ das Wesen, das ihn nun hetzte, manchmal entkommen. Aber keine Erwachsenen. Niemals. Die verfolgte das Wesen erbarmungslos – es sei denn, sie kamen irgendwie an die acht Nachrichten von einer unbekannten Nummer.

Mit einem leisen Schluchzen übergab sich Kim Degennes. Übelkeit brodelte in seinem Magen. Dazu kam das unablässige Pulsieren in seinem Schädel. Er fragte sich, ob er auch noch Nasenbluten bekommen würde.

Mit leerem Blick und tränenden Augen starrte er auf die Pfütze vor sich. Er hätte aufhören sollen. Aufhören, bevor er die Nummer angerufen, die rauschende Statik gehört hatte. Auf jeden Fall lange, bevor er die erste SMS geöffnet hatte. Aber nein, er hatte in seiner winzigen Wohnung der Neugierde nachgeben müssen. Nicht, dass er den Text jemals wieder vergessen könnte: „Don’t look… or it takes you“. Schau nicht hin, oder es kommt dich holen.

Und jetzt war es so weit. Er würde ihn holen kommen. Und nichts auf der Welt konnte ihn noch retten. Er war verloren. Sein Leben verwirkt.

Mühsam rappelte sich Kim hoch. Etwas fiel aus seiner Tasche – sein altmodisches Klapptelefon. Immerhin war dem unverwüstlichen Ding nichts passiert. Der Bildschirm war so winzig, dass er die SMS darauf praktisch nicht lesen konnte. Es war ein Wunder, dass er die Bilddateien öffnen konnte, die an einigen der Nachrichten angehängt waren. Kim legte den Kopf in den Nacken und atmete tief durch.

Als er sah, wer zwischen den Blättern auf ihn herabblickte, fing er unkontrolliert an zu schreien.

***

Frank Miller freute sich auf den Feierabend. Er mochte als Chief of Department des Sonderdezernats „Zwischenwelt“ nicht unbedingt aktiv im Einsatz sein. Aber allein die administrativen Tätigkeiten verlangten ihm so einiges ab. Neben den täglichen Pressekonferenzen überwachte er den Polizeifunk, beschönigte Berichte für die Öffentlichkeit, um die Arbeit der Abteilung „Zwischenwelt“ nicht zu enttarnen und überprüfte Cold Cases auf Spuren des Übernatürlichen.

Es war schon fast Schichtende und er freute sich auf das Abendessen, das seine Frau Ruth sicher schon auf den Tisch gezaubert hatte. Sie schimpfte zwar immer, dass er endlich in Ruhestand gehen sollte. Doch dafür fühlte sich Frank noch nicht bereit. Es gab immer noch so viel zu tun. Und egal, wie gut John, Lisa und Grandma Mambo inzwischen als Team funktionierten, sie brauchten immer noch eine Führung. Das war seine Aufgabe. Bis er sich nicht absolut sicher war, dass sie auch ohne ihn klarkommen würden, würde Frank Miller weiterhin im NYPD arbeiten. Außerdem wäre ihm den ganzen Tag zu Hause vermutlich nur langweilig.

Miller hatte gerade seinen PC heruntergefahren, als das Notruftelefon ansprang. Der Anruf war an das Sonderdezernat weitergeleitet worden, weil bestimmte Stichworte darin vorkamen, die Frank Miller in einem Algorithmus hatte hinterlegen lassen. Unglücklicherweise lagen sämtliche seiner Kollegen krank im Bett. Und de Silva hatte ein Date, da wollte Frank auch nicht stören. Also nahm der Chief of Department eben selbst den Hörer in die Hand.

„Frank Miller, NYPD, was ist Ihr Notfall?“, fragte er.

„Oh Gott, oh scheiße – ist da die Polizei?“ Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang jung, abgehackt und entsetzt. Die Qualität der Verbindung war absolut grauenhaft. Trotzdem konnte Frank Miller die Panik hinter jedem Wort hören.

„Ja, hier ist das New York Police Department. Was ist los?“

„Ich bin…“, Keuchen, „im Central Park. Im Central Park, verstehen Sie? Und er verfolgt mich. Sie müssen mich für verrückt halten. Ich schwöre, ich hab nichts genommen. Keine Drogen oder so. Und getrunken hab ich auch nicht. Ich bin nicht verrückt!“

Nach Millers Erfahrung waren diejenigen, die am lautesten darauf beharrten, nicht verrückt, betrunken oder auf Drogen zu sein, genau die, die am besten in eine Klinik eingewiesen werden sollten. Aber die Aussprache des jungen Mannes war klar. Keine verzerrten Worte, keine ineinanderlaufenden Buchstaben oder Silben. Er klang, zumindest im Augenblick, nicht, als wäre er high.

„In Ordnung“, sagte Frank vorsichtig. „Können Sie mir sagen, was genau Sie verfolgt?“ Er sagte bewusst nicht „wer“. Manchmal war es besser, dem Zeugen alle Möglichkeiten offen zu lassen.

„Der Lächler“, keuchte es aus dem Telefon. „Der Lächler…“

***

Kim Degennes rannte ohne zu zögern durch den Park. Die Gestalt, die er zwischen den Bäumen gerade so ausmachen konnte, verfolgte ihn schon seit Wochen.

Heiße Tränen rannen über seine Wangen, während er durch die Dunkelheit stolperte. Irgendwo weit weg hörte er das Dröhnen von Automotoren. Wie gerne würde er zurück in die Zivilisation rennen. Aber das ging nicht. Das durfte er nicht.

Der Stoffkopf mit dem aufgemalten Lächeln jagte ihn inzwischen schon in seinen Träumen. Er sah die unmenschlich große, entsetzlich dürre Gestalt mit dem schwarz aufgemalten Lächeln in jeder Pfütze reflektiert. Längst konnte Kim nicht mehr sagen, welche Sichtungen er sich eingebildet hatte. Welche real waren. Und welche er nur träumte. Die Arme, die wie verdrehte Zweige, lang, schlaff und merkwürdig pulsierend am Körper des Lächlers herunterhängen. Der schwarze Anzug. Der dunkelbraune Bowlerhut. Die Tulpa – ein Begriff, den Kim ebenfalls aus dem Internet hatte, und den er weniger unheimlich fand als seinen eigentlichen Namen – bewegte sich niemals. Sie kam nicht näher. Irgendwo hatte er gelesen, dass das Monster sich nur durch Teleportation an seine Opfer heranschlich. Sie zermürbte, so, wie Kim mittlerweile zermürbt war.

Es gab eigentlich nur eine einzige Hoffnung, dem Lächler zu entkommen. Und das war, die acht SMS zu erhalten. An acht verschiedenen Orten. Niemand konnte genau sagen, von wem sie gesendet wurden, nur, dass es irgendwie mit GPS zusammenhängen sollte. Aber das konnte nicht stimmen, denn Kims Handy war so alt, dass es nicht über GPS verfügte. Egal, wie man es jedoch drehte und wendete: Er hatte bisher nur vier Nachrichten erhalten. Und der Lächler war ihm dicht auf den Fersen.

Er brauchte Hilfe. Dringend. Vage erinnerte er sich daran, dass es bei der Polizei einen Typen geben sollte, der sich mit „okkultem Scheiß“ beschäftigte. Sein Dad hatte davon erzählt – oder besser, ein Freund seines Dads. Der hatte irgendwas mit Polizeihunden zu tun und hatte nicht viel von diesem Kommissar Hokuspokus gehalten. Aber vielleicht – nur vielleicht…!

Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang älter, als Kim sie sich vorgestellt hatte. Trotzdem. Seine Erlebnisse bisher sprudelten nur so aus ihm heraus.

„Der Lächler… er verfolgt mich! Sie müssen… Sie müssen mir helfen…!“

„Was soll denn das sein, der Lächler?“, fragte dieser Frank Miller.

Kim schluchzte auf. Allein den Namen zu hören, war beinahe zu viel für ihn. Gehetzt blickte er sich um, als könnten die Worte selbst ihn beschwören. Aber das war natürlich Unsinn. Oder?

„Ein… Ein Ding, das aus dem Unterbewusstsein der Menschen entstanden ist“, stammelte er. „Ich… ich würde gerne mit – mit Kommissar Hokuspokus sprechen. Bitte.“ Nur mit Mühe konnte er die Worte formen, während er durch den Park stolperte.

Irgendwo mussten sich doch weitere Nachrichten empfangen lassen. Nur wo?

***

Frank Miller konnte die Schritte des jungen Manns am anderen Ende der Leitung hören. Kies knirschte, und gehetzter Atem drang durch die Leitung. Die Verbindung war fürchterlich schlecht. Aber die Angst war deutlich spürbar. Mit jedem zweiten oder dritten Schritt war ein Schluchzen zu hören.

„SI John Amber ist leider krank“, sagte Frank, der sich fragte, woher der Kerl den Spitznamen seines Freundes bei der Polizei kannte. „Ich bin sein direkter Vorgesetzter.“

Noch während er sprach, huschten Frank Millers Finger über die Tastatur des Computers. Zu „der Lächler“ tauchten sofort Hunderte  Artikel auf. Bilder, die eindeutig von einer KI stammten, genauso wie Berichte in obskuren Foren. Es erinnerte den Chief of Department ein bisschen an die Art Informationen, die er vor einiger Zeit über die sogenannten Backrooms gesucht hatte. Die meisten Berichte widersprachen einander. Mal war der Lächler ein wahrhaftig grauenvolles Monster, mal eine geheimnisvolle, aber friedliche Gestalt aus einer urbanen Legende. Allen gemein aber war, dass dieses Wesen auf den Plan trat, wenn man von einer unbekannten Nummer angerufen wurde und danach SMS erhielt. Acht an der Zahl sollten es wohl sein.

„Okay“, keuchte der Mann am anderen Ende der Leitung. „Ich… ich bin Kim – Kim Degennes. Hören Sie, Mr. Miller – ich habe…“ Die Verbindung brach abrupt ab.

Franks Herz setzte einen Schlag aus. Es lief ihm eiskalt den Rücken hinunter.

„Mr. Degennes?“, rief er über das langanhaltende Tuten hinweg. „Mr. Degennes!“

Hastig kramte Frank Miller seine Sachen zusammen. Er musste zum Central Park. Aber der war über zwanzig Minuten entfernt. Er schluckte heftig. Starrte auf seine Dienstwaffe. Wann hatte er die zuletzt abgefeuert? Vor acht Jahren? Oder mehr? Frank war schon seit einer Ewigkeit nicht mehr im aktiven Dienst gewesen. Vielleicht sollte er doch lieber de Silva und sein Team rufen? Aber was dann? Die wären kaum schneller am Ort des Geschehens.

Kurz entschlossen packte er das Telefon ein und zog die Jacke über die Schultern. Er durfte keine Zeit verlieren. Selbst, wenn dieser Lächler nur Einbildung gewesen sein mochte. Die Panik in Degennes‘ Stimme war echt gewesen.

Er war fast bei der Tür angekommen, da schrillte sein Handy erneut.

„Mr. Degennes?“, fragte er. Seine eigene Stimme klang angespannt.

„Chief“, sagte der junge Mann am anderen Ende der Leitung. „Entschuldigung – ich habe eine weitere Nachricht bekommen. Man braucht alle acht. Sonst – oh Gott. Oh Gott, oh Gott…“ Der Wortschwall brach mit einem Würgen und feuchten Klatschen ab. 

***

Kim Degennes zitterte am ganzen Leib. Fahrig wischte er sich mit dem Handrücken über den Mund. Die sogenannte „Lächler-Präsenz“ wurde immer stärker. Ihm war schlecht, obwohl er seit Tagen nichts gegessen hatte. Er bekam dauernd Nasenbluten, und sein Schädel dröhnte.

Dabei hatte er sich doch vorgenommen, das hier zu beenden. Niemanden in die Sache hineinzuziehen… Stattdessen hatte er diesen Cop angerufen. Wobei der auch nicht sehr hilfreich war. Aber wenigstens würde es jemanden geben, der seine Familie benachrichtigen konnte, wenn er es nicht rechtzeitig schaffte.

Es gab unzählige Theorien über den Ursprung des Lächlers. Die bekannteste war wohl, dass er aus einer Art Erzählung heraus entstanden war, an die dann ausreichend viele Leute geglaubt hatten, um sie wahr werden zu lassen. Tulpa nannte man so etwas. Aber egal, wo der Lächler herkam. Er war brandgefährlich. Gewaltbereit, nachdem er seine Opfer monatelang gestalkt hatte. Er konnte überall erscheinen, war stumm und bewegungslos, bis er…

Kim wimmerte leise.

„Mr. Degennes? Sind Sie in Ordnung? Hören Sie, die nächste Polizeistation ist in der 86th Street Transverse Road. Das ist doch sicher in Ihrer Nähe. Die können Sie zumindest…“

„Nein!“, entfuhr es ihm. Zu laut, zu heftig. Er würde nicht noch mehr Leute mit in sein Chaos, in seinen Untergang hineinziehen. „Nein“, wiederholte er. „Ich… ich werde versuchen, die Nachrichten zu bekommen. Die von der unbekannten Nummer. Ich hab jetzt fünf. Ich – ich schicke sie Ihnen.“

Mit fahrigen Bewegungen tippte Kim auf seinem Handy herum. Die Tasten konnte er in der Dunkelheit fast nicht erkennen. Schließlich gelang es ihm, die SMS abzuschicken. 

Er hatte nur für einen Moment angehalten. Aufgehört zu rennen, um den Blick auf das Telefon zu senken. Und da stand der Lächler.

Halb verborgen zwischen den Bäumen ähnelte er nur entfernt der Kreatur auf den kruden Zeichnungen. Man konnte in der weißen Fläche oberhalb des Halses nur die Andeutung von Gesichtszügen erkennen. Eine dünne, viel zu breite rabenschwarze Linie schien den Mund zu formen. Die Augen waren nur schwarze Tupfen. Und der unscheinbare Hut auf seinem Kopf gab dem Monster etwas unfreiwillig Komisches.

Der Lächler stand absolut still. Dennoch kreischte Kim Degennes bei seinem Anblick laut auf.

„Was ist?“, ertönte Millers Stimme aus dem Telefon. „Was ist los?“

„Er ist hier“, wimmerte Kim. Seine Finger krampften um den Hörer. „Er ist direkt… direkt…“ er konnte die Worte nicht herausbringen. Zu sehr entsetzte ihn die Kreatur, die über ihm aufragte und alles Licht um sich herum zu schlucken schien. Selbst der weiße Stoff, der das Gesicht bildete, wirkte finster und unheilbringend.

„Bleiben Sie ganz ruhig“, sagte Miller.

Kim entfuhr ein hysterisches Lachen. Wie sollte er denn beim Anblick dieses Dings ruhig bleiben?

„Ich bin auf dem Weg zu Ihnen. Ich kann – “

„Nein“, sagte Kim stur. „Wenn Sie herkommen, erwischt er Sie auch. Helfen Sie mir lieber, zu überlegen, wo die nächste Nachricht sein könnte…“ Nicht, dass er sich bewegen konnte. Die Präsenz des Lächlers schien seine Beine am Boden festwachsen zu lassen.

„In Ordnung.“ 

Frank Miller klang nicht so, als fände er irgendetwas an der derzeitigen Situation in Ordnung. Aber das galt auch für Kim Degennes, der versuchte, sich damit abzufinden, dass er von einem Monster gehetzt wurde.

***

Der Chief of Department unterdrückte nur mit Mühe ein Fluchen. So hoch und schrill, wie Degennes‘ Stimme klang, würde der junge Mann wohl gleich durchdrehen. Hysterie war bei Menschen, die Monstern aus der Zwischenwelt begegneten, immer eine reale Gefahr.

Aber wie sollte er denn herausfinden, wo man im Central Park irgendwelche Nachrichten empfangen konnte?

Mit bebenden Händen öffnete Frank Miller die Mitteilungen, die Kim Degennes ihm geschickt hatte. Gleich die erste jagte ihm einen eisigen Schauer über den Rücken. „Don’t look… or it takes you“. Schau nicht hin, oder es kommt dich holen.

Die nächste Nachricht enthielt ein Bild, das aussah, als wäre es von einem kleinen Kind gezeichnet worden. Es bestand nur aus Kritzellinien und unpassenden Proportionen. Darauf war ein Wesen zu erkennen mit viel zu langen Armen, in einem schwarzen Anzug, mit Hut und einem Lächeln, das breiter war als der gesamte Kopf. Es stand vor einer Art Zwillingstürmen. Frank Miller runzelte die Stirn. Der Text unter dem Bild lautete „Can’t run“, also „Du kannst nicht wegrennen“.

„Er teleportiert sich“, ertönte Kims Stimme aus der Leitung. Frank Miller spürte, wie ihm eiskalt wurde. Teleportation?

„Was meinen Sie damit?“

„Er zuckt mit keinem Muskel“, flüsterte Kim Degennes. Sein Atem klang laut in Millers Ohr. Viel zu laut, unnatürlich laut. Im Hintergrund war ansonsten nur das Rauschen von Blättern zu hören. Millers Finger schlossen sich fester um sein Telefon.

„Er macht keine Geräusche. Kein Grashalm ist verbogen, nichts. Scheiße, scheiße, scheiße…!“

Miller konnte hören, wie Degennes wieder zu rennen begann. Er starrte auf den Bildschirm seines Computers, wo er die SMS vergrößert aufgerufen hatte. Er kam sich komplett nutzlos vor. Der Chief of Department zweifelte nicht daran, dass im Central Park ein junger Mann um sein Leben rannte. Und er konnte nicht das Geringste dagegen tun. Nicht einmal beim Central Park Precinct konnte er anrufen, denn dafür hätte er bei Degennes auflegen müssen. So, wie der junge Mann klang, würde er dann vermutlich vollends überschnappen.

„Er steht mitten auf der Wiese“, wimmerte Degennes, als könnte er Millers aufsteigende Panik spüren. „Ich glaube, er wird wütend. Mir ist so kalt… mein Kopf tut weh…“

„Beruhigen Sie sich“, bellte Frank. Etwas Besseres fiel ihm nicht ein, während er auf die SMS starrte. Es musste in diesen verdammten Foren irgendeinen Hinweis geben. Aber so sehr sich Miller auch das Hirn zermarterte, ihm wollte nichts Sinnvolles einfallen.

„Der Lächler ernährt sich angeblich von der Angst seiner Opfer. Je mehr Panik Sie haben, desto stärker wird er. Ich finde eine Lösung. Bleiben Sie nur am Telefon. Und in Bewegung.“

Deutlich hörte Miller, dass Kim Degennes wieder losrannte. Die Krakelzeichnungen verschwammen vor seinen Augen. Auf jeder stand der Lächler vor einem anderen Hintergrund.

„Cleopatra’s Needle!“, entfuhr es ihm. „Wissen Sie, wo Sie die finden?“

„Äh… ja“, keuchte Degennes ins Telefon. „Aber warum?“

„Haben Sie da schon eine Nachricht empfangen?“

„Nein.“ Ein leises Schluchzen ertönte.

„Dann laufen Sie zur Needle. Die beiden Obelisken sind auf einem dieser Bilder zu sehen. Los!“

***

Kim war noch nie in seinem Leben so schnell gerannt. Er hatte schon sechs Nachrichten. Vielleicht redete Chief Miller Mist. Aber falls nicht, durfte er sich diese Chance nicht entgehen lassen.

Keine vier Meter hinter sich hatte er den Lächler zuletzt gesehen. Sein Anzug, der eigentlich hätte elegant wirken können, hing unnatürlich steif von seinen Schultern. Wobei sich Kim nicht sicher war, ob es sich tatsächlich um Kleidung handelte. Sondern um Haut. Und er wurde das Gefühl nicht los, dass der aufgemalte Strich, der sein Lächeln bildete, breiter geworden war.

Kim sah in der Ferne die beiden riesigen, schwarzen Obelisken aufragen, die das Kunstwerk Cleopatra’s Needle bildeten. Er rannte. Er rannte und rannte und rannte, über die Wiese.

Der Lächler erschien plötzlich direkt vor ihm. Seine Arme, diese langen, knochigen, merkwürdig vielgelenkigen Arme bewegten sich seltsam langsam auf Kim Degennes zu. Abgehackt. Beinahe wie bei einem Video, das erst nachladen musste und einzelne Frames übersprang.

Seine Beine kamen ihm plötzlich steif und ungelenk vor. Eine unsichtbare Druckwelle fegte über ihn hinweg. Blut tropfte Kim Degennes übers Kinn.

„Chief?“, fragte er. Seine Stimme klang merkwürdig dumpf. „Ich glaube, ich schaff es nicht…“

„Reden Sie keinen Schwachsinn!“, schimpfte Miller wütend. Oder vielleicht auch voller Angst. Kims Beine bewegten sich keinen Millimeter. Stattdessen konnte er nur in das formlose Stoffgesicht des Lächlers starren, der direkt zwischen den beiden Steinsäulen stand.

„Natürlich werden Sie das schaffen. Laufen Sie! Sie haben fast alle Nachrichten beisammen!“

Mit einem Ruck stand der Lächler direkt über Kim Degennes. Er beugte sich nach vorn. Der aufgemalte Strich öffnete sich zu einer pechschwarzen Höhle.

„Chief? Chief, es tut mir leid, ich – “

Kim Degennes Handy stürzte zu Boden. Ein leises Vibrieren zeigte an, dass er eine Nachricht von einer unbekannten Nummer erhalten hatte.

***

„Kim!“, schrie Frank Miller in sein Telefon. Aber da war nichts. Keine Antwort. Einfach nur das Rauschen des Windes. „Mr. Degennes!“

Taubheit breitete sich in seinem Körper aus. Entsetzliche, eiskalte Taubheit. Die letzten, panikerfüllten, von Schluchzern geschüttelten Worte von Kim Degennes hallten noch in Frank Miller nach: „Es tut mir leid, ich – “

„Mr. Degennes!“ Frank konnte hören, wie sich die Worte überschlugen. „Hey! Sind Sie noch da? Mr. Degennes!“ Er ahnte, dass Kim Degennes tot war. Oder verschwunden. Oder vom Lächler mitgenommen, oder was auch immer diese Kreatur mit ihren Opfern machte.

Und er hatte nichts tun können. Nicht das kleinste bisschen. Statt im Central Park an der Seite des jungen Manns zu stehen, saß er hier an seinem Computer im warmen Büro am One Police Plaza. Ein junger Mann war – vermutlich gestorben. Wenn nicht gar Schlimmeres. Und es war allein seine Schuld.

Das Telefon fiel klappernd aus Franks leblosen Fingern auf den Schreibtisch. Sein gesamter Körper begann, zu zittern. War es das, was John und Lisa jeden Tag durchmachten? Wenn sie einem Unschuldigen nicht rechtzeitig helfen konnten? Spürten sie auch diese entsetzliche Schuld?

Sein Handy brummte. Mit einem trockenen Schlucken öffnete Frank Miller das Nachrichtenprogramm. Eine siebte SMS blinkte auf dem Bildschirm. Es war nur ein Wortschwall. Immer das gleiche Wort: No. Nein. Nein. Neineineineinein.

Frank Miller rieb sich über das Gesicht. Es war weit nach seiner normalen Feierabendzeit. Ruth würde sich Sorgen machen. Und überhaupt war außer ihm schon lange niemand mehr auf seiner Etage. Mit steifen Gliedern erhob sich der Chief of Department. Er brauchte jetzt dringend einen starken Kaffee. Oder vielleicht doch besser gleich einen Whisky. Dann musste er irgendwie einen Bericht schreiben. Wie er das anstellen sollte, wo seine Finger doch so zitterten, wusste er nicht.

An den Weg zur Kaffeemaschine hatte er keine Erinnerung. Auch nicht daran, wie er auf den braunen Kaffeestrahl starrte, der langsam in einen Pappbecher tropfte.

Die Deckenlampe in der kleinen Kaffeenische flackerte. Frank Miller zwang sich, aufzublicken.

Da stand er.

Der Lächler.

Vornübergebeugt, den Kopf halb unter der Decke eingequetscht. Viel zu groß für diesen Raum. Er sah genauso aus wie auf den Bildern. Mindestens drei Meter musste das Ding sein. Sein Anzug war schwarz, im künstlichen Schein der Leuchte schien er sämtliche Helligkeit und Wärme zu absorbieren. Seine grotesk langen Arme streiften den hässlichen, mintgrünen Teppich. Der Hut saß schief auf seinem Kopf, und das Gesicht… Es erinnerte Miller an eine Schaufensterpuppe. Die Züge waren vage angedeutet – wo Augen sein sollten, gab es leichte Vertiefungen und schwarze, runde Punkte. Wo sich die Nase befinden sollte, eine Erhebung. Dafür war der Mund eine lange, krakelig-schiefe Linie, die sich über das gesamte Gesicht zog.

Frank Millers Herz setzte einen Schlag aus.

Er hatte sieben Nachrichten. Um den Lächler loszuwerden, brauchte er aber acht.

***

Der Kaffeebecher klatschte auf den Boden und verspritzte überall braune Flüssigkeit. Frank Miller wirbelte herum und rannte los. Er brauchte sein Telefon. Dann musste er herausfinden, wo er eine Nachricht herbekommen konnte.

In seinem Kopf begann es, dumpf zu pochen. Als er Nässe auf der Lippe spürte, begriff Frank, dass er an der Lächler-Präsenz litt. Er hatte Nasenbluten, Kopfschmerzen, Übelkeit. Wie eine Erkältung, nur tausendmal schlimmer. Viele, viele tausend Mal.

Mit lautem Knall schlug er die Bürotür hinter sich zu. Da, auf dem Schreibtisch. Da lag sein Handy. Miller hetzte darauf zu. Schweiß stand ihm auf der Stirn. Er wurde wirklich langsam zu alt für so etwas. Sein Herzschlag stach mit jeder Bewegung. Sein Atem presste schmerzhaft gegen seine Rippen.

Mit lautem Keuchen packte er sein Handy. Sieben Nachrichten. Er brauchte acht.

Miller wirbelte herum. Und der Lächler stand in seinem Türrahmen.

Er hatte die gleiche Haltung wie vorher bei der Kaffeenische. Die gleichen steifen Arme. Die gleichen leblosen und dennoch gehässigen Züge im Gesicht. Der Hut saß genauso schief und der Anzug war noch genauso merkwürdig fleischig. Aber jetzt war der Lächler zwischen Miller und dem einzigen Ausgang aus seinem Büro.

Hilflos irrte der Blick des Chiefs of Department durch den Raum. Der Schreibtisch würde kaum Schutz bieten, dafür waren die Arme des Monsters zu lang. Die Waffe? Vermutlich nutzlos. Die meisten Wesen der Zwischenwelt konnten nicht durch einfache Kugeln verletzt werden. Dann huschten seine Augen zum Fenster. Auf dem Dach der Polizeistation gab es eine Satellitenschüssel. Vielleicht dort?

Es war seine einzige Chance. Miller hechtete über den Schreibtisch. Mit lautem Krachen riss er den Computer um, verhedderte sich für einen Moment in den Kabeln. Unter dem Schreibtisch hervor sah er, wie der Schatten des Lächlers sich nach ihm streckte. Näher kam.

Miller wirbelte herum und riss das Fenster auf. Ungelenk hievte er sich nach draußen. Sofort umfing ihn New Yorks eisige Nacht. Wind zerrte an seiner Uniform. Das Fenstersims und der dahinterliegende Vorsprung war schmal. Und glitschig. Mit vor Entsetzten fest zusammengekniffenen Augen tastete sich Frank vorwärts.

Der Lächler erschien im Fensterrahmen. Dem Chief of Department entfuhr ein heiserer Schrei. Die Pose hatte sich ein bisschen verändert – der Lächler stand nun vorgebeugt, als wollte er ihm winken. Er war halb nach draußen gelehnt. Und seine Krallenfinger streckten sich in seltsam abgehackten Bewegungen nach Miller aus.

Frank schob sich weiter. Millimeter um Millimeter, bis seine Finger die Leiter zu fassen bekamen. Dann biss er die Zähne zusammen und begann, so schnell er konnte zu klettern. Eisige Finger packten seine Waden. Schmerz wie von Frostbeulen tobte in Millers Bein. Er riss und zerrte, aber der Lächler war unfassbar stark. Schließlich musste der Cop mit seinem zweiten Bein nachtreten.

Mit einem Ruck hievte er sich aufs Dach. Eisiger Wind und noch kälterer Regen peitschte auf ihn herab. Im nächsten Moment spürte er tödlich kalte Finger an seiner Wange. Die Präsenz des Lächlers war überwältigend. Die Luft wich mit einem zitternden Keuchen aus Frank Millers Lungen. Unsichtbare Macht drückte ihn zu Boden.

Mit aller Kraft zwang sich der Cop, die Hand in Richtung der weißgrauen Satellitenschüssel auszustrecken. So nah, und doch so fern… Schwarze Punkte tanzten vor seinen Augen. Seine Muskeln krampften. So nah… das Telefon vibrierte. Eine SMS blitzte auf.

***

„Und deswegen bin ich jetzt auch erkältet“, erklärte Frank Miller am Telefon.

„Na, das klingt ja, als hättest du richtig Spaß gehabt.“ Der Sarkasmus in John Ambers Worten war nicht zu überhören. „Das nächste Mal überlass lieber uns das Monsterjagen.“

Frank Miller legte sich zurück in sein weiches Ehebett. Ruth war in der Küche  zu hören, wie sie ihm frischen Tee zubereitete.

„Keine Sorge“, sagte er und hustete ausgiebig. „So schnell werde ich mich sicher nicht mehr mit irgendwelchen grässlichen Dingen anlegen… da gebe ich ja noch lieber Pressekonferenzen.“

„Die Reporter können auch manchmal ganz schön monströs sein“, gab John Amber zu und nieste ausgiebig. „Verdammter Mist… tja, jetzt muss sich wohl auch mal das Sonderdezernat „Zwischenwelt“ ausruhen.“

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