Der Punkt, an dem sie aussteigen konnte, war lange vorbei. Während sie zwischen den Bäumen entlanghetzte, fragte sie sich, wie lange schon. War das damals, als sie das erste Mal in einem Internetforum mit anderen Urbanen Entdeckern gesprochen hatte? Ein Zweig riss an am Gurt ihres Rucksacks. Kim Degennes stolperte. Ihr Herz setzte einen Schlag aus.
Die Taschenlampe fiel ihr aus der Hand, als sie hart auf dem Boden aufschlug. Scharfer Schmerz schoss in ihr linkes Handgelenk. Dunkelheit schluckte ihren zitternden Körper. Kim kam ihr eigener Atem so laut vor, dass sie die Geräusche des nachtschwarzen Central Parks nicht mehr hörte.
Unter ihr knirschten Blätter mit jeder noch so kleinen Bewegung. Ihr Herz raste. Wo war er? Wo? Sie hatte ihn vorher kurz gesehen. Kim war nicht dumm genug zu glauben, dass er die Jagd nach ihr aufgeben würde.
Vielleicht hätte sie noch Hoffnung gehabt, als sie die erste verdächtige Nachricht aus einer Schule gehört hatte. Kinder, ja, Kinder konnten dem Wesen, das sie nun hetzte, oft entkommen. Erwachsene, soweit sie wusste, niemals. Nicht ohne die acht Nachrichten einer unbekannten Nummer.
Mit einem leisen Schluchzer übergab sich Kim Degennes. Übelkeit brodelte in ihrem Magen, dazu kam das Pochen hinter ihren Schläfen. Sie fragte sich, ob sie wieder Nasenbluten bekommen würde.
Sie rollte sich zur Seite. Sie hätte aufhören sollen. Aufhören, bevor sie die Nummer angerufen hatte, bevor sie die rauschende Statik gehört hatte. Bevor die erste SMS über ihren Bildschirm gelaufen war. Das war in der Wohnung ihrer Studentenbude gewesen. Die Botschaft hatte sich in ihr Gehirn eingebrannt: „Don’t look… or it takes you“. Schau nicht hin, oder es kommt dich holen.
Jetzt war es soweit. Er würde sie holen kommen. Er würde sie holen, und es gab nichts, was sie tun konnte, um das zu verhindern.
Kim rappelte sich hoch. Etwas fiel aus ihrer Tasche – ihr Smartphone. Der Bildschirm hatte einen Riss bekommen, als sie darauf gestürzt war. Hoffentlich würde sie lange genug leben, um die achte Nachricht zu erhalten. Mit bebenden Fingern entsperrte sie den Touchscreen. Künstliches, stark weißes Licht strahlte in Richtung Himmel.
Kim Degennes stieß einen lauten Schrei aus, als sie sah, was zwischen den Blättern auf sie herabblickte.
***
Antonio De Silva schenkte seinem Date ein strahlendes Lächeln. Es war schon eine Weile her, dass er sich so gut unterhalten hatte. Die warmen Kerzen, der Duft von köstlichem Essen und die heimelige Atmosphäre des Per L’Amore taten ihr Übriges.
Die schlanke Frau ihm gegenüber spielte mit einer Strähne ihres goldenblonden Haars und zwinkerte.
„Und wie kommt es, dass so ein waschechter Agent wie du noch keine Partnerin fürs Leben gefunden hat?“
De Silva trank einen Schluck des wirklich ausgezeichneten Rotweins und tippte das Glas in Laetitias Richtung.
„Bei so viel Schönheit auf dieser Welt, wie soll man sich denn da entscheiden?“
Das entlockte ihr ein Lachen. Sie warf den Kopf zurück und entblößte ihren Hals. Das Kerzenlicht sammelte sich in der kleinen Kuhle an ihrem Schlüsselbein. De Silva konnte es kaum erwarten, seine Lippen über die samtweiche Haut wandern zu lassen.
„Du bist ein Casanova“, neckte Laetitia.
De Silva zuckte mit den Schultern. Er machte keinen Hehl daraus, dass er sich für die schönen Dinge des Lebens begeistern konnte. Seine Arbeit war düster genug, da musste er sich in seiner Freizeit etwas Ausgleich schaffen. Eine schöne Frau an seiner Seite, entspannte Gespräche und ein 3-Sterne-Restaurant. Konnte es etwas angenehmeres geben?
„Das gefällt dir doch an mir“, sagte er und ergriff ihre Hand, spielte mit ihren Fingern. „Es gibt so viel Schönheit in dieser Welt.“ Er blickte in ihre honigwarmen Augen. Das Funkeln darin ließ sein Herz höher schlagen. „Warum sollte man die nicht… genießen?“
Laetitias Lachen klang rauchig, als sie sich ein Stück näher zu ihm lehnte. Sie spielte mit dem Rand seines Weinglases.
„Und… genießt du meine Gesellschaft?“
Er beugte sich ebenfalls nach vorne. Aus dieser Entfernung konnte er ihr Parfum riechen. Etwas fruchtiges, mit einem Spritzer zitronenhafter Frische. Ihre Lippen waren nur Millimeter voneinander entfernt, als die ersten Töne der Titelmelodie des A-Teams aus seiner Hosentasche erklangen.
De Silva fluchte unterdrückt – hatte John Amber seinen Dienst-Klingelton schon wieder umgestellt?
„Tut mir Leid, meine Schöne, da muss ich rangehen“, entschuldigte er sich und erhob sich. Laetitia zog einen Schmollmund, sodass er ihr die Hand an die Wange legte. Sie schmiegte sich wie eine Katze hinein.
„Lass uns das ein andermal wiederholen, ja? Die Arbeit ruft.“
***
Kim Degennes rannte ohne zu zögern los. Die Gestalt, die das grelle Licht ihres Bildschirms enthüllt hatte, verfolgte sie schon seit Tagen.
Heiße Tränen rannen über ihre Wangen, während sie durch die Finsternis stolperte. Irgendwo weit weg hörte sie das Dröhnen von Automotoren. Aber die Zivilisation hielt keine Sicherheit für sie bereit. Nur mehr Schrecken.
Der Stoffkopf mit dem aufgemalten Lächeln verfolgte sie in ihren Träumen. Sie sah die unmenschlich große, schlanke Gestalt mit diesem einen, schwarzen Krakelstrich im Gesicht in jedem unbedachten Moment. Längst konnte Kim nicht mehr sagen, welche Sichtungen sie sich eingebildet hatte. Und welche real waren. Die Arme, die wie verdrehte Zweige, lang, schlaff und merkwürdig pulsierend an seinem Körper herunterhängen. Der schwarze Anzug. Der dunkelbraune Bowlerhut. Die Tulpa – ein Begriff, den Kim ebenfalls aus dem Internet hatte, und den sie weniger unheimlich fand als seinen eigentlichen Namen – bewegte sich niemals. Sie kam nicht näher. Irgendwo hatte sie gelesen, dass das Monster sich nur durch Teleportation an seine Opfer heranschlich. Sie zermürbte, so, wie er Kim zermürbt hatte.
Es gab keinen Ort mehr, an dem sie sich verstecken konnte. Ihre einzige Hoffnung war, alle acht Nachrichten zu erhalten. Niemand konnte sagen, von wo aus sie gesendet wurden, nur, dass es über das GPS ihres Handys funktionierte. Sie hatte nur vier. Und der Lächler war schon ganz nahe.
***
Antonio De Silva stand vor dem hell erleuchteten Per L’Amore-Restaurant auf dem Bürgersteig und hielt sein Smartphone ans Ohr.
„Chief?“, fragte er. Verschwunden war die leichte, verspielte Flirterei. Zurück blieb der knallharte SWAT-Officer.
„Sergeant de Silva“, kam Frank Millers Stimme aus dem Telefon. „Wir haben einen Anruf von einem besorgten Nachbarn erhalten. Eine junge Frau rennt wie wahnsinnig durch den Central Park, als ob sie verfolgt würde. Wobei der anonyme Anrufer niemanden gesehen haben will. Können Sie das überprüfen?“
„Was ist mit SI Amber und Coleman?“, fragte De Silva irritiert. Nicht, dass er ein Problem damit hatte, Menschen zu helfen. Im Gegenteil, kaum, dass er die Location erfahren hatte, war Antonio de Silva bereits losgejoggt. Zum Glück war der Central Park nicht weit von hier.
„Die beiden liegen mit einer Erkältung im Bett“, grummelte Frank Miller. „Erinnern Sie sich an den Fall beim Hudson River? Sagen wir es mal so, ein Bad Mitte November im eiskalten Fluss ist auch für Special Investigators nicht die beste Idee.“
De Silva entfuhr ein bellendes Lachen.
„Wünschen Sie Ihnen gute Besserung von mir.“ Er überlegte einen Moment. „Wissen wir sonst noch irgendwas?“
„Die Frau, um die es geht, heißt Kim Degennes. Der Nachbar, der angerufen hat, meinte, sie hätte sich merkwürdig verhalten in letzter Zeit. Hat das Haus nicht mehr verlassen, keine Wäsche gewaschen, sowas. Es klang für mich, als hielte er Ms. Degennes für schizophren oder paranoid. Aber da man auch beobachtet hat, wie sie vor etwas scheinbar Unsichtbarem flieht, sollten wir es uns zumindest mal ansehen. Und mit „wir“ meine ich natürlich Sie.“
De Silva nickte und ging gedanklich die magischen Wesen durch, die sich unsichtbar machen konnten. Die Liste war bedrückend lang. Geister, Dschinns, Grinsekatzen, Ohngesichter, manche Mitglieder des Kleinen Volks – besser bekannt als Fae oder Feen. Und so weiter. Sie alle konnten einem Menschen unter Umständen gefährlich werden.
„Ich kümmere mich darum. Wo genau im Central Park?“, fragte er, während er ungeduldig an einer roten Ampel wartete.
De Silvas Blick wanderte über die ersten, mit Straßenlaternen erhellten Bereiche der riesigen Parkanlage. Da drin eine einzelne Frau zu finden, war fast unmöglich. Zum Glück hatten sie Zugriff auf einige Verkehrskameras, sodass Miller hoffentlich einen groben Standort ermitteln konnte.
Er hob sein Handy und schaltete die Taschenlampe ein. Suchend flirrte ihr Lichtstrahl über vereinzelte Jogger und Obdachlose, die sich einen Schlafplatz suchten.
Plötzlich vibrierte das Gerät in seinen Händen. Irritiert blickte De Silva darauf hinab auf das Display. Eine Nachricht, von einer unbekannten Nummer. Die Vorschau zeigte die Worte „Do you dare?“ Der Agent blinzelte. Was genau sollte er sich trauen?
Sein Daumen zuckte zum SMS-Programm, um es zu öffnen.
***
„Nicht!“
Kim brach aus der Baumreihe hervor. Sie spürte den Lächler hinter sich – sie durfte nicht zulassen, dass noch jemand in diese Sache hineingezogen wurde. Oft reichte schon der Kontakt zu einer Person, die von dieser Ausgeburt des kollektiven Unterbewusstseins verfolgt wurde, um selbst in sein Visier zu geraten. Aber wenn man sich wirklich sicher sein wollte, dass man von diesem Monster gejagt wurde, dann musste man nur eine der geheimnisvollen Nachrichten lesen.
Der Mann in elegantem Anzug und mit kurzen, dunklen Haaren zuckte zusammen und wandte sich nach ihr um. Kim wedelte nachdrücklich mit den Armen.
„Sie dürfen die Nachricht nicht öffnen!“
Verständlicherweise verwirrt blinzelte der ältere Mann sie an. Er mochte um die 40 sein, leicht verschwitzt und mit einem wachen Blick.
Kim kam keuchend neben ihm zum Stehen. Ohne auf seine Reaktion zu warten, riss sie ihm das Smartphone aus der Hand und übertrug die Nachricht mit wenigen Klicks auf ihr eigenes Telefon. Sie schauderte angesichts der Fotografie einer kruden Kinderzeichnung. Kritzelstriche deuteten die riesenhafte Gestalt des Lächlers zwischen einigen Krakelbäumen an. Die Wachsmalstriche waren alle schwarz, das Lächeln breiter als der ganze Kopf. Die Caption der Nachricht lautete „Follow“, also „Folge mir“, unter der vertrauten Aufforderung, sich „zu trauen“. Sie stopfte ihr Telefon hastig in die Tasche der völlig verdreckten Jeans. Jetzt hatte sie schon sechs SMS. Fehlten noch zwei, und mit etwas Glück konnte sie dem Monster doch entkommen.
Das war das Einzige, bei dem sich sämtliche Leute aus dem Netz einig waren: Wenn man die Locations fand, an denen die acht Nachrichten verschickt wurden, dann ließ der Lächler einen in Ruhe.
„Sind Sie Ms. Degennes?“, fragte der Mann unerwartet in ihre Gedanken hinein.
Kim zuckte zusammen.
„Woher wissen Sie das?“
„Ich bin Sergeant Antonio De Silva. Wir haben einen Anruf erhalten, dass…“ Sie spürte, wie sein Blick an ihrer zerrissenen, dreckigen Kleidung herunterwanderte, „…dass Sie in Schwierigkeiten stecken.“
Kim lachte hysterisch auf. Es blubberte in ihrer Nase – sie hatte wieder mal Nasenbluten. Übelkeit stieg in ihrem Bauch auf. Wann hatte sie zuletzt etwas gegessen? Spielte das noch eine Rolle? Sie musste hier weg, sonst würde sie den Cop in ihre Angelegenheiten mit hineinziehen. Und wenn die Symptome der sogenannten „Lächler-Präsenz“ schlimmer wurden, dann bedeutete das, dass er in der Nähe war.
Agent De Silva verzog besorgt das Gesicht und reichte ihr ein Taschentuch.
„Sind Sie in Ordnung? Eine so hübsche junge Frau… kommen Sie doch erstmal mit mir.“
„Sie halten mich für verrückt“, stellte Kim fest. Nun, fairerweise war sie sich an manchen Tagen selbst nicht sicher, ob sie nicht doch durchgeknallt war. Aber deswegen durfte sie noch lange kein Risiko eingehen. Paranoia bedeutete schließlich nicht, dass der über 2 Meter große, grotesk grinsende Monstermann nicht doch darauf lauerte, sie in einem unbedachten Moment zu überfallen.
***
De Silva ließ seinen Blick prüfend über die junge Frau wandern. Kim Degennes war höchstens Mitte zwanzig, schlank, klein und vermutlich brünett. Obwohl das bei all den Zweigen, die in ihrem fettigen Haar steckten, schwer zu sagen war. Ihre Kleidung war verschlissen und dreckig, ihre Haut bleich und an den Wangen eingefallen.
Normalerweise hätte de Silva vermutet, dass es sich bei Ms. Degennes um eine Drogensüchtige handelte. Aber dafür wirkte sie viel zu klar. Ihre Augen waren nicht umwölkt, und das Zittern in ihren Fingern und Armen schien mehr von Erschöpfung und Angst zu kommen als von Entzugserscheinungen. Hinzu kam die merkwürdige Nachricht, die er nicht ganz hatte erkennen können. Scheinbar war es ein Foto gewesen, darunter ein paar Worte. Wenigstens hatte sie ihm das Smartphone mit einer Entschuldigung sofort wiedergegeben.
Agent de Silva legte ein sanftes Lächeln auf seine Lippen und streckte langsam die Hand nach Degennes aus.
„Ms. Degennes, warum kommen Sie nicht mit mir? Ich verspreche, dass ich Sie vor so ziemlich allem beschützen kann, das hier herumkriecht.“
Im Lachen der jungen Frau lag eine gehörige Portion Wahnsinn. Sie wirkte vollkommen erledigt.
„Sie würden mir ja doch nicht glauben, wer mich verfolgt.“
„Warum versuchen Sie es nicht trotzdem? Ich verspreche Ihnen, ich habe auch Salz gegen Geister in meinen Taschen.“ Zum Beweis beförderte De Silva ein kleines Tütchen aus seiner Anzugtasche.
Degennes blinzelte irritiert.
„Salz?“, fragte sie.
De Silva nickte nachdrücklich. Er legte ihr eine Hand auf die Schulter. Die Haut unter dem übergroßen Hoodie war eingefallen, die Knochen fühlten sich brüchig an. Degennes war eindeutig am Ende ihrer Kräfte.
„Wir… haben Mittel und Wege, so ziemlich alles, was Sie sich vorstellen können, von… Ihnen…“
Antonio de Silva hatte automatisch die Umgebung gescannt. Selbst bei unsichtbaren Wesen gab es Anzeichen, dass sie da waren. Plattgedrücktes Gras oder das Gefühl, beobachtet zu werden, plötzliche Kälteeinbrüche oder merkwürdige Geräusche. Aber mit dieser Sache hatte er nicht gerechnet: Am Rand seines Blickfelds war eine hochgewachsene Gestalt erschienen.
Das Wesen stand halb zwischen den Bäumen und ähnelte der Kreatur auf dem Foto. Er konnte in der weißen Fläche oberhalb des Halses nur die Ahnung von Gesichtszügen erkennen. Eine dünne, viel zu breite rabenschwarze Linie schien den Mund zu formen. Die Augen waren nur schwarze Tupfen. Und der unscheinbare Hut auf seinem Kopf gab dem Monster etwas unfreiwillig Komisches. Aber de Silva war absolut nicht zum Lachen zumute.
„Was zum…?“
De Silvas Herzschlag beschleunigte sich, als Kim Degennes herumfuhr. Sie stieß ein hohes, schrilles Kreischen aus. Das Gefühl, von dem riesenhaften Ding angestarrt zu werden, kroch mit Eisfingern durch de Silvas Adern. Seine Beine gehorchten ihm nicht, er konnte den Blick nicht abwenden.
„Was ist das?“, fragte er entsetzt. Nässe tropfte auf seine Lippen. Als er langsam den Finger hob, stellte er fest, dass er Nasenbluten hatte. Erstaunt blinzelte er auf seinen blutbefleckten Zeigefinger.
„Der Lächler“, flüsterte Kim Degennes, die nun neben ihm ebenfalls wie erstarrt schien. „Der Lächler. Und ich habe noch nicht alle seine SMS…“
***
Kim Degennes zitterte am ganzen Leib. Dabei hatte sie sich doch vorgenommen, das hier zu beenden. Niemanden in die Sache hineinzuziehen… Wobei dieser Sergeant dafür, dass er gerade eine leibhaftige Ausgeburt kollektiver Vorstellungskraft sah, erstaunlich gelassen blieb.
Es gab unzählige Theorien über den Ursprung des Lächlers. Die bekannteste war wohl, dass er aus einer Art Erzählung heraus entstanden war, an die dann ausreichend Leute geglaubt hatten, um sie wahr werden zu lassen. Tulpa nannte man so etwas. Aber egal, wo der Lächler herkam. Er war brandgefährlich. Gewaltbereit, nachdem er seine Opfer monatelang gestalkt hatte. Er konnte überall erscheinen, war stumm und bewegungslos, bis er…
Kim entwich ein leises Wimmern. Sie hatte nur ganz kurz den Blick abgewandt, um zu Agent De Silva zu blicken. Der Lächler hatte mit keinem einzigen Muskel gezuckt. Das hätte sie selbst aus den Augenwinkeln gesehen. Stattdessen war er plötzlich einfach näher gerückt. Er stand nun mitten auf der Wiese zwischen ihnen. Er hatte kein Geräusch gemacht. Keinen Grashalm umgeknickt. Er war einfach da.
Der Knall zerriss direkt neben ihrem Ohr die Luft. Sie wirbelte herum und sah Sergeant De Silva in Kampfhaltung. Eine kleine Pistole lag in seiner Hand, seine Augen waren hart und konzentriert. Die Waffe war seelenruhig irgendwo auf die Brust des Lächlers gerichtet. Aus seiner Nase troff Blut, aber es schien den Sergeant nicht zu stören.
Wieder ein Knall, ein dritter, ein vierter. Alle in die Körpermitte des riesigen Wesens. Kims Atem kam in abgehackten Stößen. Ihre Ohren klingelten.
Der Lächler bewegte sich kein Stück, aber Rauch stieg von seiner Anzugjacke auf. Kim hatte das Gefühl, ihn jetzt erst richtig wütend zu erleben. Eine ordentliche Leistung für ein Wesen mit aufgemaltem Gesicht, das sich nicht das kleinste bisschen bewegte. Aber die außerordentliche Kälte, die in ihr aufstieg, das Pochen hinter ihren Schläfen, all das nahm zu. Sie wollte zu Boden sinken, sich den Kopf halten, heulen und flehen. Stattdessen packte sie Sergeant de Silva am Arm.
„Wir müssen die Sende-Locations finden“, schrie sie, so laut sie konnte.
Der SWAT-Officer nickte. Er hinterfragte nicht. Er schien ihr zu glauben, was sich alleine schon unglaublich anfühlte. Ihr Herz raste in Kims Brust. Ihr Atem kam in abgehackten Stößen, aber eine Ahnung von – vielleicht von einer Chance, pochte hinter ihren Rippen.
***
„Was ist das für ein Ding?“, schrie de Silva. Sein Gehör war von den Schüssen noch angegriffen. Doch die Einschläge schienen die riesenhafte, schmerzhaft dünne Gestalt mit den viel zu langen Fingern nicht zu stören.
„Der Lächler!“, schrie Degennes zurück.
„Der… Lächler?“ Was für ein bescheuerter Name für eine Kreatur der Zwischenwelt. Vermutlich wüsste John Amber, wie man das Ding erfolgreicher loswurde – Pistolenschüsse jedenfalls richteten nicht viel aus.
De Silva hatte den Gedanken kaum beendet, da stand der Lächler kaum drei Meter von ihnen entfernt. Aus nächster Näher war er noch grotesker. Sein langer, schlanker Körper ragte wie eine verzerrte Statue über De Silva und Degennes auf. Der Anzug, der eigentlich hätte elegant wirken können, hing unnatürlich steif von seinen Schultern. Für einen entsetzlichen Augenblick dachte de Silva, es würde sich gar nicht um Kleidung handeln. Sondern um seine Haut. Der Hut war nicht das geringste bisschen verrutscht. Aber de Silva wurde das Gefühl nicht los, dass der aufgemalte Strich, der sein Mund war, breiter geworden war. Er erstreckte sich jetzt schon von einer Seite des Stoffkopfes bis zur anderen.
Die Arme des Lächlers, diese langen, knochigen, merkwürdig vielgelenkigen Arme bewegten sich seltsam langsam. Abgehackt. Beinahe wie bei einem Video, das erst nachladen musste und einzelne Frames übersprang.
„Weg hier!“, schrie de Silva, packte die junge Frau am Arm und rannte los. Die Luft um ihn herum schien sich zusammenzuziehen. Die Realität schien zu verschwimmen, als kalte, lautlose Finger sich auf de Silvas Schulter legten. „Lauf!“
Seine Beine kamen ihm plötzlich steif und ungelenk vor. Eine unsichtbare Druckwelle fegte über die beiden Fliehenden hinweg. Antonio konnte sich gerade so aufrechthalten. Aber Kim Degennes stürzte.
„Die acht Nachrichten!“, schrie sie. Sie kramte etwas aus ihrer Tasche. Ihr Smartphone. Sie warf es von sich. Es landete kaum einen halben Meter vor ihm „Sie müssen – !“
Mit einem Ruck stand der Lächler direkt über Kim Degennes. De Silva feuerte sein gesamtes Magazin auf das Wesen. Aber da war es schon zu spät. Der Lächler beugte sich nach vorne, und der aufgemalte Strich öffnete sich zu einer pechschwarzen Höhle. Antonio De Silva stürzte rückwärts zu Boden.
***
SWAT-Officer Antonio de Silva blinzelte. Er saß mitten in der Nacht und mutterseelenalleine im Central Park auf dem Hosenboden. War er nicht... gerade noch auf einem Date gewesen?
Er rieb sich über die schweißnasse Stirn. War er gerannt? Eine schwere, drückende Last schien auf seinem Kopf zu liegen. Er kniff sich in den Nasenrücken und stellte überrascht fest, dass er Nasenbluten gehabt hatte.
Vor ihm auf dem Boden lag ein sanft flimmerndes Smartphone. Mit bebenden Fingern – wieso war er denn so nervös? – hob er es auf.
Der Bildschirm war gesprungen, aber er sah deutlich die Benachrichtigungen einer unbekannten Nummer. Sieben davon waren es, und die Zahl rührte an einer Erinnerung. Nur schien diese vergraben zu sein, als läge sie unter einem dicken Stoffhaufen, der sie dämpfte. Zögernd öffnete de Silva die SMS.
Es handelte sich um Fotos kruder Zeichnungen. Manche schienen von Kindern zu stammen, mit Kritzellinien und unpassenden Proportionen. Sie zeigten ein Wesen mit viel zu langen Armen, in einem schwarzen Anzug, mit Hut und einem Lächeln, das breiter war als der gesamte Kopf. Ein Wort formte sich in seinen Gedanken. Lächler. War dieses Ding ein – oder der? Lächler?
Jedes Bild begleiteten einige Textzeilen. Sie weckten ein Gefühl der Beklemmung in de Silvas Brust, nicht nur, weil es Warnungen zu sein schienen:
„Can’t run“ stand unter dem einen, „Du kannst nicht wegrennen“. Auf einem weiteren, in blutroter Schrift, „Don’t look, or it takes you“.
„Schau nicht hin, sonst holt es dich?“, fragte er laut. Irgendwie hatte Antonio de Silva das Gefühl, dass diese Nachrichten wichtig waren. Und… sollten es nicht mehr sein?
Hinter seinen Schläfen pochte es grässlich. Mit einem leichten Kopfschütteln suchte er nach seinem eigenen Smartphone.
„De Silva!“ Der Chief of Department meldete sich schon beim ersten Klingeln. „Haben Sie der Frau helfen können?“
De Silva hielt das Smartphone ein Stück von sich. Welche Frau denn?
„Ähm…“
„Alles in Ordnung bei Ihnen?“
De Silvas Gedanken kreiselten wild. Er hatte keine Erinnerungen daran, eine Frau gesehen oder ihr geholfen zu haben. Nicht die geringsten. Aber er wusste auch nicht, wie er vom Restaurant Per L’Amore aus in den Central Park gekommen war.
„Irgendwas stimmt nicht“, bestätigte de Silva. Er rieb sich wieder über die Stirn. Plötzlich rebellierte sein Magen. Ohne Übergang fand er sich auf der Seite wieder, wo er sich geräuschvoll übergab.
„De Silva? Soll ich Verstärkung schicken?“
„Nein, ist schon… gut…“ Er wischte sich über den Mund, um den sauren Geschmack loszuwerden. Dann überprüfte der Sergeant seine Waffe – das Magazin war leer. Er hatte auf etwas geschossen. Nur was? „Ich… ich glaube, mir hat etwas das Gedächtnis gelöscht.“
„Sie sind einer Meldung über eine Frau im Central Park nachgegangen, die von etwas Unsichtbarem verfolgt wird.“ Frank Millers Stimme war angespannt. „Danach habe ich nichts mehr von Ihnen gehört.“
„Ich habe ein leeres Magazin und… sechs SMS auf einem Smartphone, das mir nicht gehört.“ De Silva zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, was das soll.“
***
Antonio de Silva machte sich langsam auf den Weg durch den Park. Um diese Nachtzeit waren nicht mehr viele Leute unterwegs. Nur die Straßenlaternen malten Lichtpfützen auf die Kieswege. Anspannung kroch in seine Schultern.
Die Luft in de Silvas Lungen fühlte sich schwer an, als er mit zitternden Fingern seine Waffe nachlud. Manchmal… manchmal lohnte es sich, wenn man nie unbewaffnet aus dem Haus ging. Die Geräusche des Parks klangen gedämpft. Sogar seine Schritte schienen irgendwie zu leise. Weit weg. Jedes Rascheln und Knacken ließ sein Herz schneller schlagen.
Aber da war nichts. Nur Schatten, die über die Bäume aufzuragen schienen. Manchmal glaubte er, ein bleiches, rundes Licht aufblitzen zu sehen. De Silva leckte sich die Lippen. Er erkannte das Gefühl in seiner Brust– Paranoia.
Sein Verstand spielte ihm Streiche. Da war nichts. Oder doch? Die Frau, von der Miller gesprochen hatte, hatte sich auch verfolgt gefühlt. Ein eisiges Kribbeln rann über seinen Rücken. Wieso konnte er sich nicht erinnern? Wessen Einfluss lag auf seinem Geist? Etwa der dieses – dieses Lächlers?
Es fühlte sich an, als würden unsichtbare Augen ihn verfolgen. De Silvas Blick zuckte hektisch von links nach rechts. Aber da war nichts. Da musste etwas sein. Es bewegte sich, es verfolgte ihn. Er konnte es nur nicht sehen.
De Silva beschleunigte seine Schritte. Sein Atem ging flach, die Hände krampften sich um die Waffe. Die Welt um ihn herum war nicht mehr sicher. Die Realität selbst nur ein hauchdünnes Konstrukt, das jederzeit aufplatzen konnte wie eine eitrige Beule. Seine Zunge klebte trocken am Gaumen –
Da. Er hastete ins Licht einer Lampe. Sicherheit. Hoffentlich. Licht war gut – richtig? Er kam keuchend zum Stehen, die Hände auf den Knien. Er war sich nur vage bewusst, dass er gerannt war.
In seiner Tasche vibrierte ein Smartphone. Mit bebenden Fingern zog er es heraus. Das musste das Telefon der Frau gewesen sein. Oder? Vorsichtig weckte er den Bildschirm. Eine SMS. Unbekannte Nummer. Mit einem einzigen Wort. Es zog sich über mehrere Zeilen, immer wieder die gleichen zwei Buchstaben: „No“. Nein. Nein nein nein nein nein.
De Silvas Augen huschten über jeden Buchstaben. Auf dem Smartphone waren sieben dieser Nachrichten. Eine Stimme hallte in seinem Kopf nach: „Die acht Nachrichten!“ Eine Frauenstimme. Dazu das Gefühl von Beklemmung.
Der Sergeant versuchte, tief durchzuatmen. Aber seine Nase fühlte sich verstopft an. Sie blutete wieder. Das bedeutete irgendwas. Irgendwas Wichtiges. Aber hinter seiner Stirn pochte es, als hätte sein Gehirn einen eigenen Pulsschlag entwickelt.
Es war beinahe eine Erleichterung, als er das Ding als Silhouette zwischen den Bäumen sah. Es erinnerte ihn an einen großen, dürren Mann. In Anzug, mit einem leicht schief sitzenden Bowlerhut. Es hatte viel zu lange Arme. Viel zu große Hände, viel zu lange Finger.
Und es bewegte sich kein Stück. Nicht einmal der Wind schien seinen Anzug antasten zu können. Nur ein breites Lächeln zog sich von einer Seite des Gesichts zur anderen, aufgemalt wie auf Stoff.
Plötzlich war alles wieder da. Kim Degennes, die stürzte. Der Lächler, der sich mit seinen abgehackten Bewegungen über sie beugte. Dessen lange, eisweiße Knochenfinger ihre Wange streichelten, beinahe zärtlich. Dann, Filmriss. Der Sergeant konnte nicht sagen, was der Lächler mit Kim Degennes gemacht hatte. Nur, dass ihm das Gleiche blühen würde, wenn er nicht die achte Nachricht erhalten konnte, das ahnte er.
***
In einem Augenblick stand der Lächler zwischen den Bäumen, fast zwanzig Meter von ihm entfernt. Im nächsten war er verschwunden.
De Silva wirbelte herum. Da stand er – nun noch höchstens zehn Meter entfernt. Er war riesig. Sein Gesicht eine einzige, weiße Fläche, Augen, Nase und Mund aufgezeichnet wie von Kinderhand. Als hätte er einen Kopf wie eine Stoffpuppe. Immer noch hatte der Lächler seine Haltung nicht verändert. Er stand einfach nur da. Die Arme hingen steif herunter. Der Hut saß schief. Die Augen waren nur Kreise, die niemals blinzelten. Er hielt sich ein bisschen geduckt, oder vornübergebeugt.
Der SWAT-Officer biss die Zähne zusammen. Er zwang sich, zu zielen, zu feuern. Es hatte beim letzten Mal schon nicht viel geholfen. Aber immerhin hatte der Lächler gezögert. Nur, wie sollte er jetzt gleichzeitig diesem Ding entkommen? Und wie war er überhaupt an diese sieben Nachrichten gekommen – wo sollte er eine achte hernehmen?
De Silva rannte los. Er konnte es nicht darauf ankommen lassen. Seine Gedanken rasten. Sein Magen rebellierte. Wo hatte er die letzten beiden Nachrichten erhalten? Bei einem Baum, bei einer Laterne. An geraden, hohen, dünnen Säulen. Wie Sendemasten. Wo waren im Central Park mehr davon?
Die Cleopatra’s Needle. De Silva beschleunigte seine Schritte. Er konnte spüren, wie der Lächler näher kam. Das Monster tauchte immer von der Seite auf. Zwischen den Bäumen. In seinem Weg. Jetzt war es nur noch zwei Meter entfernt. De Silva konnte seinen muffigen, modrigen Mottengeruch wahrnehmen.
Blut troff ihm übers Kinn, als er die beiden Obelisken erreichte, die das Monument Cleopatra’s Needle bildeten. Sie waren große, lange, viereckige Quader, die bis in den Himmel reichten.
Er warf sich nach vorne. War er nahe genug? Seine Finger kramten in der Hosentasche. Das Smartphone rutschte ihm aus der Hand. Klirrend fiel es zu Boden, der Bildschirm bekam einen weiteren Riss. Der Hintergrund, generische, bunte Kreise, verzerrte sich zwischen den Sprüngen.
Im nächsten Moment spürte er todeskalte Finger an seiner Wange. Die Präsenz des Lächlers war überwältigend. Die Luft wich mit einem zitternden Keuchen aus de Silvas Lungen. Unsichtbare Macht drückte ihn zu Boden.
Mit aller Kraft zwang sich der Agent, die Hand auszustrecken. Seine Finger streiften das dunkle Metall. Schwarze Punkte tanzten vor seinen Augen. Seine Muskeln krampften. So nah… das Telefon vibrierte.
***
„Es war verdammt unheimlich“, schloss der SWAT-Officer seinen Bericht an den Chief of Department Frank Miller. Er trank seinen Kaffee schwarz, aber mit zitternden Fingern. „Ich dachte, ich schaffe es nicht.“
Die acht Zettel lagen vor ihm auf Millers Schreibtisch ausgebreitet.
„Sobald ich die letzte SMS erhalten hatte, war der Lächler einfach weg. Als hätte es ihn nie gegeben.“ De Silva schluckte trocken. Er wusste immer noch nicht, was mit Kim Degennes passiert war, nachdem der Lächler sie berührt hatte. Wenn er ehrlich war, wollte er es auch nicht so genau wissen. „Ich brauche mindestens zwei Wochen Urlaub“, sagte er fest.
„Kann ich verstehen“, stimmte Miller zu. „Aber leider schlafen unsere Feinde nie. Deswegen…“
„Schreibe ich den Bericht und halte mich auf Abruf für das Sonderdezernat „Zwischenwelt“ bereit“, beendete de Silva mit einem tiefen Seufzer seinen Satz.
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