Schatten über New York
Short Storys

Urban Legends II 
Schwarz auf Weiß – Eine Chrissy Parker-Geschichte

Kim Degennes hetzte zwischen den Bäumen des Central Park hindurch. Ebenso wie die Bäume rasten auch seine Gedanken wild an ihm vorbei. Wann nur war alles so sehr aus dem Ruder gelaufen? War das damals, als er zum ersten Mal in einem Internetforum mit anderen urbanen Entdeckern gesprochen hatte? Mit einem plötzlichen Ruck blieb der Gurt seines Rucksacks an etwas hängen. Er stolperte, sein Herz setzte für einen Schlag aus.

Scharfer Schmerz fuhr in seinen Kiefer, als er der Länge nach hinschlug. Die Taschenlampe klapperte, als sie auf den Kiesweg fiel. Ihr Licht erlosch. Dunkelheit verschluckte Kims zitternden Körper. Sein eigener Atem kam ihm so laut vor, dass er beinahe die Geräusche des nachtschwarzen Parks nicht mehr wahrnahm.

Jede noch so kleine Bewegung ließ den Kies unter seinem Körper knirschen. Er erstarrte. Sein Herz raste – wo war er? Wo? Er glaubte, ihn hinter einer Buche aufzucken zu sehen. Oder bildete er sich das nur ein? Kim war nicht dumm genug, zu glauben, dass er die Jagd nach ihm aufgeben würde.

Das letzte bisschen Hoffnung war mit der verdächtigen Nachricht aus der Schule in seiner Nachbarschaft gestorben. Kinder ließ das Wesen, das ihn nun hetzte, manchmal entkommen. Aber keine Erwachsenen. Niemals. Die verfolgte das Wesen erbarmungslos – es sei denn, sie kamen irgendwie an die acht Nachrichten einer unbekannten Nummer.

Mit einem leisen Schluchzer übergab sich Kim Degennes. Übelkeit brodelte in seinem Magen. Dazu kam das unablässige Pulsieren in seinem Schädel. Er fragte sich, ob er auch noch Nasenbluten bekommen würde.

Mit leerem Blick und tränenden Augen starrte er auf die Pfütze vor sich. Er hätte aufhören sollen. Aufhören, bevor er die Nummer angerufen, die rauschende Statik gehört hatte. Auf jeden Fall lange, bevor er die erste SMS geöffnet hatte. Aber nein, er hatte ja in seiner winzigen Wohnung der Neugierde nachgeben müssen. Nicht, dass er den Text jemals wieder vergessen können würde: „Don’t look… or it takes you“. Schau nicht hin, oder es kommt dich holen.

Und jetzt war es so weit. Er würde ihn holen kommen. Und nichts auf der Welt konnte ihn noch retten. Er war verloren. Sein Leben verwirkt.

Mühsam rappelte sich Kim hoch. Etwas fiel aus seiner Tasche – sein altmodisches Klapptelefon. Immerhin war dem unverwüstlichen Ding nichts passiert. Der Bildschirm war so winzig, dass er die SMS darauf praktisch nicht lesen konnte. Es war ein Wunder, dass er die Bilddateien öffnen konnte, die an einigen der Nachrichten angehängt waren. Kim legte den Kopf in den Nacken und atmete tief durch.

Als er sah, was zwischen den Blättern auf ihn herabblickte, fing er unkontrolliert an zu schreien.

***

Chrissy Parker war an diesem Abend die Letzte auf der Etage im One Police Plaza, auf der das Sonderdezernat „Zwischenwelt“ untergebracht war. Eigentlich hatte sie das vermeiden wollen, zu unsicher fühlte sie sich noch in ihrem neuen Arbeitsumfeld.

Sie schauderte, als sie daran dachte, wie vor drei Monaten der Chief of Department, der oberste uniformierte Beamte der Stadt New York, sie zu sprechen wünschte. Sie! Was wollte Frank Miller von ihr, der kleinen Beamtin? Genau wie heute hatte sie in den drei Jahren ihrer bisherigen Dienstzeit nichts anderes gemacht, als vor Bildschirmen zu sitzen und Tatorte zu analysieren. Das war eben das Aufgabenfeld einer Crime Scene Analystin.

Damals wäre ihr beinahe das Herz in die Hose gerutscht. Umso mehr, als der Chief of Department ihr dann auch noch die Spezialermittler John Amber und Lisa Coleman vorstellte.  Amber hatte sie da nur als „Kommissar Hokuspokus“ gekannt, und um ihn und sein Team rankten sich zahlreiche Gerüchte und Legenden. Als ihr Amber, dessen Kollegin Coleman und Frank Miller dann mithilfe von Videos, Dokumenten und Artefakten den tatsächlichen Aufgabenbereich der Abteilung vor Augen geführt hatten, hätte sie beinahe auf der Stelle gekündigt. Doch die Neugier war größer gewesen. Die Neugier – und der Wunsch, im Kampf gegen die Ungeheuer aus dem Jenseits zu helfen.

Frank Millers Vision war es, uralte Monster mit hochmodernen Polizeimethoden zur Strecke zu bringen. Dazu brauchte er jemanden, der über Kenntnisse in der digitalen Ermittlungsarbeit verfügte, und sie war die Auserkorene. Am Ende konnte sie gar nicht anders als „Ja“ sagen.

Chrissy Parker musste noch die Auswertungen des letzten Tatorts analysieren. Irgendetwas an den Aufnahmen wollte einfach nicht ins Gesamtbild der Ermittlungen passen.

Wenn wenigstens John Amber oder Lisa Coleman da wären. Doch die beiden waren mit Ermittlungsarbeiten weit außerhalb von New York City beschäftigt.

Mit einem Schulterrollen lehnte sich Chrissy Parker in ihrem Schreibtischstuhl zurück. Sie würde heute ohnehin nicht weiterkommen, also schloss sie den Deckel ihres Laptops und begann, auch den Hauptrechner herunterzufahren.

Sie wollte gerade aufstehen, als das Notruftelefon ansprang. Frank Miller hatte in die digitale Anrufannahme des NYPD eine KI implementieren lassen, die nach bestimmten Algorithmen Anrufe in die Abteilung „Zwischenwelt“ umleitete, bevor sie von einem anderen physischen Gesprächspartner entgegengenommen werden konnten.

„Chrissy Parker, NYPD, wie kann ich Ihnen helfen?“, fragte sie.

„Oh Gott, oh Scheiße – ist da die Polizei?“

Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang jung, abgehackt und entsetzt. Die Qualität der Verbindung war absolut grauenhaft. Trotzdem konnte Chrissy Parker die Panik aus jedem Wort fließen hören.

„Ja, hier ist das New York Police Department. Was ist los?“

„Ich bin…“, Keuchen, „im Central Park. Im Central Park, verstehen Sie? Und er verfolgt mich. Sie müssen mich für verrückt halten. Ich schwöre, ich hab nichts genommen. Keine Drogen oder so. Und getrunken hab ich auch nicht. Ich bin nicht verrückt!“

Nach Parkers Erfahrung waren diejenigen, die am lautesten darauf beharrten, nicht verrückt, betrunken oder auf Drogen zu sein, genau die, die am schnellsten in eine Klinik eingewiesen werden sollten. Aber die Aussprache des jungen Mannes war klar. Keine verzerrten Worte, keine ineinanderlaufenden Buchstaben oder Silben. Er klang, zumindest im Augenblick, nicht, als wäre er high.

„In Ordnung“, sagte die Tatortanalystin vorsichtig. „Können Sie mir sagen, was genau Sie verfolgt?“

Sie sagte bewusst nicht „wer“. Manchmal war es besser, dem Zeugen alle Möglichkeiten offen zu lassen.

„Der Lächler“, keuchte es aus dem Telefon. „Der Lächler…“

***

Kim Degennes rannte ohne zu zögern durch den Park. Die Gestalt, die er zwischen den Bäumen gerade so ausmachen konnte, verfolgte ihn schon seit Wochen.

Heiße Tränen rannen über seine Wangen, während er durch die Dunkelheit stolperte. Irgendwo weit weg hörte er das Dröhnen von Automotoren. Wie gerne würde er zurück in die Zivilisation rennen? Aber das ging nicht. Das durfte er nicht.

Der Stoffkopf mit dem aufgemalten Lächeln jagte ihn inzwischen schon in seinen Träumen. Er sah die unmenschlich große, entsetzlich dürre Gestalt mit dem schwarz aufgemalten Lächeln als Spiegelung in jeder Pfütze. Längst konnte Kim nicht mehr sagen, welche Sichtungen er sich eingebildet hatte. Welche real waren. Und welche er nur träumte. Die Arme, die wie verdrehte Zweige, lang, schlaff und merkwürdig pulsierend am Körper des Lächlers herunterhängen. Der schwarze Anzug. Der dunkelbraune Bowler Hut. Die Tulpa – ein Begriff, den Kim ebenfalls aus dem Internet hatte, und den er weniger unheimlich fand als seinen eigentlichen Namen – bewegte sich niemals. Sie kam nicht näher. Irgendwo hatte er gelesen, dass das Monster sich nur durch Teleportation an seine Opfer heranschlich, sie zermürbte, so wie er Kim zermürbt hatte.

Es gab eigentlich nur eine einzige Hoffnung, dem Lächler zu entkommen. Und das war, die acht SMS zu erhalten. An acht verschiedenen Orten. Niemand konnte genau sagen, von wem sie gesendet wurden, nur, dass es irgendwie mit GPS zusammenhängen sollte. Aber das konnte nicht stimmen, denn Kims Handy war so alt, dass es nicht über GPS verfügte. Egal, wie man es jedoch drehte und wendete: Er hatte bisher nur vier Nachrichten erhalten. Und der Lächler war ihm dicht auf den Fersen.

Er brauchte Hilfe. Dringend. Vage erinnerte er sich daran, dass es bei der Polizei einen Typen geben sollte, der sich mit „okkultem Scheiß“ beschäftigte. Sein Dad hatte davon erzählt – oder besser, ein Freund seines Dads. Der hatte irgendwas mit Polizeihunden zu tun und hatte nicht viel von diesem Kommissar Hokuspokus gehalten. Aber vielleicht – nur vielleicht…!

Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang jünger, als Kim sie sich vorgestellt hatte. Und vor allem weiblich. Trotzdem. Seine Erlebnisse bisher sprudelten nur so aus ihm heraus.

„Der Lächler… er verfolgt mich! Sie müssen… Sie müssen mir helfen…!“

„Was soll denn das sein, der Lächler?“, fragte diese Chrissy Parker.

Kim schluchzte auf. Allein, den Namen zu hören, war beinahe zu viel für ihn. Gehetzt blickte er sich um, als könnten die Worte selbst ihn beschwören. Aber das war natürlich Unsinn. Oder?

„Ein… Ein Ding, das aus dem Unterbewusstsein der Menschen entstanden ist“, stammelte er. „Ich… ich würde gerne mit – mit Kommissar Hokuspokus sprechen. Bitte.“ Nur mit Mühe konnte er die Worte formen, während er durch den Park stolperte.

Irgendwo mussten sich doch weitere Nachrichten empfangen lassen. Nur wo?

***

Chrissy konnte die Schritte des jungen Manns am anderen Ende der Leitung hören. Kies knirschte, und gehetzter Atem knackte in der Leitung. Die Verbindung war fürchterlich schlecht. Aber die Angst war deutlich spürbar. Mit jedem zweiten oder dritten Schritt brach ein Schluchzer aus ihm hervor.

„SI John Amber ist leider krank“, sagte Chrissy, die sich fragte, woher der Kerl den Spitznamen ihres Kollegen kannte. „Ich bin eine seiner Kolleginnen.“

Noch während sie sprach, huschten Chrissy Parkers Finger über die Tastatur des Computers. Zu „Der Lächler“ tauchten sofort hunderte von Artikeln auf. Bilder, die eindeutig von einer KI stammten, bis hin zu Berichten in obskuren Foren. Sie kannte so etwas zur Genüge. Die meisten Geschichten, die im Internet auftauchten, waren unmöglich auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Es sei denn natürlich, man verfügte über ihre Fähigkeiten und eine ganze Menge nützlicher Bots, die das World Wide Web durchforsteten.

Wie erwartet widersprachen sich die meisten Berichte gegenseitig. Mal war der Lächler ein wahrhaftig grauenvolles Monster, mal eine geheimnisvolle Gestalt aus einer urbanen Legende. Allen gemein aber war, dass dieses Wesen auf den Plan trat, wenn man von einer unbekannten Nummer angerufen wurde und danach SMS erhielt. Acht an der Zahl sollten es wohl sein.

„Okay“, keuchte der Mann am anderen Ende der Leitung. „Ich… ich bin Kim – Kim Degennes. Hören Sie, Mrs. Parker – ich habe…“ Die Verbindung brach abrupt ab.

Chrissys Herz setzte einen Schlag aus. Es lief ihr eiskalt den Rücken hinunter.

„Mr. Degennes?“, rief sie über das langanhaltende Tuten hinweg. „Mr. Degennes!“

Hastig kramte die Tatortanalystin ihre Sachen zusammen. Sie musste zum Central Park. Aber der war über zwanzig Minuten entfernt. Und überhaupt… wann war sie zuletzt außerhalb des Bürogebäudes am One Police Plaza aktiv geworden? Nicht einmal ihre Dienstwaffe hatte sie in ihrer kleinen Computerzentrale. Nein, die lag sicher eingeschlossen in ihrem Spind. Vielleicht sollte sie de Silva und sein Team rufen? Aber was dann? Die wären kaum schneller am Ort des Geschehens.

Kurz entschlossen packte sie das Telefon ein und zog die Jacke über die Schultern. Sie durfte keine Zeit verlieren. Selbst, wenn dieser Lächler nur Einbildung gewesen sein mochte. Die Panik in Degennes‘ Stimme war echt gewesen.

Sie hatte die Tür fast erreicht, da schrillte ihr Handy wieder los. Mit bebenden Fingern ging Chrissy ran.

„Mr. Degennes?“, fragte sie. Ihre eigene Stimme klang angespannt.

„Hey“, sagte der junge Mann am anderen Ende der Leitung. „Entschuldigung – ich habe eine weitere Nachricht bekommen. Man braucht alle acht. Sonst – Oh Gott. Oh Gott, oh Gott…“ Der Wortschwall brach mit einem Würgen und feuchten Klatschen ab.

***

Kim Degennes zitterte am ganzen Leib. Fahrig wischte er sich mit dem Handrücken über den Mund. Die sogenannte „Lächler-Präsenz“ wurde immer stärker. Ihm war schlecht, obwohl er seit Tagen nichts gegessen hatte. Er bekam dauernd Nasenbluten, und sein Schädel dröhnte.

Dabei hatte er sich doch vorgenommen gehabt, das hier zu beenden. Niemanden in die Sache hineinzuziehen… Stattdessen hatte er diese Polizistin angerufen. Wobei die auch nicht sehr hilfreich war. Aber wenigstens würde es jemanden geben, der seine Familie benachrichtigen konnte, wenn er es nicht rechtzeitig schaffte.

Es gab unzählige Theorien über den Ursprung des Lächlers. Die Bekannteste war wohl, dass er aus einer Art Erzählung heraus entstanden war, an die dann ausreichend Leute geglaubt hatten, um sie wahr werden zu lassen. Tulpa nannte man so etwas. Aber egal, wo der Lächler herkam, er war brandgefährlich. Nachdem er seine Opfer monatelang stalkte, bis sie verrückt wurden, tötete er sie am Ende eiskalt. Dazu konnte der Lächler überall erscheinen, war stumm und bewegungslos, bis er…

Kim entwich ein leises Wimmern.

„Mr. Degennes? Sind Sie in Ordnung? Hören Sie: Die nächste Polizeistation ist in der 86th Street Transverse Road. Das ist doch sicher in Ihrer Nähe. Die können Sie zumindest…“

„Nein!“, entfuhr es ihm. Zu laut, zu heftig. Er würde nicht noch mehr Leute mit in sein Chaos, in seinen Untergang hineinziehen. „Nein“, wiederholte er. „Ich… ich werde versuchen, die Nachrichten von der unbekannten Nummer zu empfangen. Ich hab jetzt fünf. Ich – ich schicke sie Ihnen.“

Mit fahrigen Bewegungen tippte Kim auf seinem Handy herum. Die Tasten konnte er in der Dunkelheit fast nicht erkennen. Als es ihm schließlich gelang, die SMS abzuschicken, hätte er am liebsten vor Erleichterung geheult.

Einen Moment blieb er stehen. Nur einen winzigen Moment, um einen Blick auf das Telefon zu werfen. Und da stand der Lächler.

Halb verborgen zwischen den Bäumen ähnelte er der Kreatur auf den kruden Zeichnungen nur entfernt. Man konnte in der weißen Fläche oberhalb des Halses nur die Ahnung von Gesichtszügen erkennen. Eine dünne, viel zu breite, rabenschwarze Linie schien den Mund zu formen. Die Augen waren nur schwarze Tupfen. Und der unscheinbare Hut auf seinem Kopf gab dem Monster etwas unfreiwillig Komisches.

Der Lächler stand absolut still. Dennoch kreischte Kim Degennes bei seinem Anblick laut auf.

„Was ist?“, ertönte Parkers Stimme aus seinem Telefon. „Was ist los?“

„Er ist hier“, wimmerte Kim. Seine Finger krampften sich um den Hörer. „Er ist direkt… direkt…“ r konnte die Worte nicht herausbringen. Zu sehr entsetzte ihn die Kreatur, die über ihm aufragte und alles Licht um sich herum zu schlucken schien. Selbst der weiße Stoff, der das Gesicht bildete, war finster und unheilbringend.

„Bleiben Sie ganz ruhig“, sagte Parker.

Kim entfuhr ein hysterisches Lachen. Wie sollte er denn beim Anblick dieses Dings ruhig bleiben?

„Ich bin auf dem Weg zu Ihnen. Ich kann – “

„Nein“, sagte Kim. „Wenn Sie herkommen, erwischt er Sie auch. Helfen Sie mir lieber, zu überlegen, wo die nächste Nachricht sein könnte…“

Er konnte sich nicht bewegen. Die Gegenwart des Lächlers schien seine Beine am Boden festwachsen zu lassen.

„In Ordnung.“ Chrissy Parker klang nicht so, als fände sie irgendetwas an der derzeitigen Situation in Ordnung. Aber das galt auch für Kim Degennes, der versuchte, sich damit abzufinden, dass er von einem Monster gehetzt wurde.

***

Die Tatortanalystin unterdrückte nur mit Mühe ein Fluchen. So hoch und schrill, wie Degennes‘ Stimme klang, würde der junge Mann wohl gleich durchdrehen. Hysterie war bei Menschen, die Monstern aus der Zwischenwelt begegneten, immer eine reale Gefahr.

Aber wie sollte sie denn herausfinden, wo im Central Park man irgendwelche Nachrichten empfangen konnte?

Mit bebenden Händen öffnete Chrissy Parker die Nachrichten, die Kim Degennes ihr geschickt hatte. Gleich die allererste jagte ihr einen eisigen Schauer über den Rücken. „Don’t look… or it takes you“. Schau nicht hin, oder es kommt dich holen.

Die Nächste enthielt ein Bild, das aussah, als wäre es von einem kleinen Kind gezeichnet worden. Es bestand nur aus Kritzellinien und unpassenden Proportionen. Darauf war ein Wesen mit viel zu langen Armen, in einem schwarzen Anzug, mit Hut und einem Lächeln, das breiter war als der gesamte Kopf. Es stand vor einer Art Zwillingstürmen. Die Polizistin runzelte die Stirn. Der Text unter dem Bild lautete „Can’t run“, also „Du kannst nicht wegrennen“.

„Er teleportiert sich“, ertönte da Kims Stimme aus der Leitung. Er konnte sich teleportieren? Chrissy Parker spürte, wie es ihr kalt den Rücken hinunterlief.

„Was meinen Sie damit?“

„Er zuckt mit keinem Muskel“, flüsterte Kim Degennes. Sein Atem klang laut in Parkers Ohr. Viel zu laut, unnatürlich laut. Im Hintergrund war ansonsten nur das Rauschen von Blättern zu hören. Ihre Finger schlossen sich fester um sein Telefon.

„Er macht keine Geräusche. Kein Grashalm ist verbogen, nichts. Scheiße, scheiße, scheiße…!“

Die Tatortanalystin konnte hören, wie Degennes wieder zu rennen begann. Sie starrte auf den Bildschirm ihres Computers, wo sie die SMS vergrößert aufgerufen hatte. Sie kam sich komplett nutzlos vor. Parker zweifelte nicht daran, dass im Central Park ein junger Mann um sein Leben rannte. Und sie konnte nicht das Geringste dagegen tun. Nicht einmal beim Central Park Precinct konnte sie anrufen, denn dafür hätte sie bei Degennes auflegen müssen. So, wie der junge Mann klang, würde er dann vermutlich vollends überschnappen.

„Er steht mitten auf der Wiese“, wimmerte Degennes, als könnte er Chrissy Parkers aufsteigende Panik spüren. „Ich glaube, er wird wütend. Mir ist so kalt… mein Kopf tut weh…“

„Beruhigen Sie sich“, bellte Chrissy. Etwas Besseres fiel ihr nicht ein, während sie auf die SMS starrte. Irgendwas musste ihr doch einfallen, irgendeinen Hinweis musste es doch in diesen verdammten Foren geben. Aber so sehr sie sich auch das Hirn zermarterte, ihr wollte nichts einfallen.

Sie wünschte, die beiden Special Investigators Amber und Coleman wären hier. Die hätten sicher eine Ahnung, was zu tun war. Aber die beiden lagen mit Fieber in ihren Betten. Chrissy war die Letzte, die hier noch Stellung hielt.

Nur eine Sache konnte sie dank ihrer Bots inzwischen mit Sicherheit sagen:

„Der Lächler ernährt sich angeblich auch von der Angst seiner Opfer. Je mehr Panik Sie haben, desto stärker wird er. Ich finde eine Lösung. Bleiben Sie nur am Telefon, aber nicht stehenbleiben.“

Deutlich hörte Parker, dass Kim Degennes wieder losrannte. Die Krakelzeichnungen verschwammen vor ihren Augen. Auf jedem Bild stand der Lächler vor einem anderen Hintergrund.

„Cleopatra’s Needle!“, entfuhr es ihr. „Wissen Sie, wo Sie die finden?“

„Äh… ja“, keuchte Degennes ins Telefon. „Aber warum?“

„Haben Sie da schon eine Nachricht empfangen?“

„Nein.“ Ein leises Schluchzen ertönte.

„Dann laufen Sie zur Needle. Die beiden Obelisken sind auf einem dieser Bilder zu sehen. Los!“

***

Kim war noch nie in seinem Leben so schnell gerannt. Er hatte schon sechs Nachrichten. Vielleicht redete Chief Miller Mist. Aber falls nicht, durfte er sich diese Chance nicht entgehen lassen.

Keine vier Meter hinter sich hatte er den Lächler zuletzt gesehen. Sein Anzug, der eigentlich hätte elegant wirken können, hing unnatürlich steif von seinen Schultern. Kim war sich nicht einmal sicher, ob die Kleidung überhaupt aus Stoff bestand. Eine unangenehme Ahnung sagte ihm, dass es sich stattdessen um Haut handelte.

Und er wurde das Gefühl nicht los, dass der aufgemalte Strich, der sein Lächeln bildete, breiter geworden war.

Kim sah in der Ferne die beiden riesigen, schwarzen Obelisken aufragen, die das Kunstwerk Cleopatra’s Needle bildeten. Er rannte. Er rannte und rannte und rannte über die Wiese.

Der Lächler erschien plötzlich direkt vor ihm. Seine Arme, diese langen, knochigen, merkwürdig vielgelenkigen Arme bewegten sich seltsam langsam auf Kim Degennes zu. Abgehackt. Fast wie bei einem Video, das erst nachladen musste und einzelne Frames übersprang.

Seine Beine kamen ihm plötzlich steif und ungelenk vor. Eine unsichtbare Druckwelle fegte über ihn hinweg. Blut tropfte Kim Degennes übers Kinn.

„Mrs. Parker?“, fragte er. Seine Stimme klang merkwürdig dumpf. „Ich glaube, ich schaff es nicht…“

„Reden Sie keinen Schwachsinn!“, schimpfte Chrissy Parker wütend. Oder vielleicht auch voller Angst. Kims Beine bewegten sich keinen Millimeter. Stattdessen konnte er nur in das formlose Stoffgesicht des Lächlers starren, der direkt zwischen den beiden Steinsäulen stand.

„Natürlich werden Sie das schaffen. Laufen Sie! Sie haben fast alle Nachrichten beisammen!“

Mit einem Ruck stand der Lächler direkt über Kim Degennes. Er beugte sich nach vorne. Der aufgemalte Strich öffnete sich zu einer pechschwarzen Höhle.

„Miss? Miss, es tut mir Leid, ich – “

Kim Degennes Handy stürzte zu Boden. Ein leises Vibrieren zeigte an, dass er eine Nachricht von einer unbekannten Nummer erhalten hatte.

***

„Kim!“, schrie Chrissy Parker in ihr Telefon. Aber da war nichts. Keine Antwort. Einfach nur das Rauschen des Windes. „Mr. Degennes!“

Taubheit breitete sich in ihrem Körper aus. Entsetzliche, eiskalte Taubheit. Die letzten, panikerfüllten, von Schluchzern geschüttelten Worte von Kim Degennes hallten noch in Chrissy Parkers Ohren nach: „Es tut mir Leid, ich – “

„Mr. Degennes!“ Die Polizistin konnte hören, wie sich die Worte überschlugen. „Hey! Sind Sie noch da? Mr. Degennes!“ Sie ahnte, dass Kim Degennes tot war. Oder verschwunden. Oder vom Lächler mitgenommen, oder was auch immer diese Kreatur mit ihren Opfern machte.

Und sie hatte nichts tun können. Nicht das kleinste Bisschen. Statt im Central Park an der Seite des jungen Manns zu stehen, saß sie hier an ihrem Computer im warmen Büro am One Police Plaza. Ein junger Mann war gestorben. Wenn nicht gar Schlimmeres. Und es war allein ihre Schuld.

Das Telefon fiel klappernd auf ihren Schreibtisch, als es ihr aus den leblosen Fingern fiel. Sie zitterte am ganzen Körper. War es das, was John und Lisa jeden Tag durchmachten? Wenn sie einem Unschuldigen nicht rechtzeitig helfen konnten? Spürten sie auch diese entsetzliche Schuld?

Ihr Handy brummte. Mit einem trockenen Schlucken öffnete Chrissy Parker das Nachrichtenprogramm. Eine siebte SMS blinkte auf dem Bildschirm. Es war nur ein Wortschwall. Immer das gleiche Wort: No. Nein. Nein. Neineineineinein.

Die Tatortanalystin rieb sich über das Gesicht. Es war weit nach ihrer normalen Feierabendzeit. Der Bildschirm flackerte vor ihren Augen. Ihr war unglaublich kalt. Sie wünschte sich plötzlich, es wären noch Kollegen auf diesem Stockwerk. Aber sie war alleine. Sie war so unglaublich alleine.

Mit steifen Gliedern erhob sich Chrissy Parker. Sie brauchte jetzt dringend einen starken Kaffee. Oder vielleicht doch besser gleich einen Whisky. Dann musste sie irgendwie einen Bericht schreiben. Nicht, dass die Polizistin wusste, was sie da hineinschreiben sollte. Oder auch nur, wie sie die Worte tippen sollten, so sehr bebten ihre Finger.

An den Weg zur Kaffeemaschine hatte sie keine Erinnerung. Auch nicht daran, wie sie auf den braunen Kaffeestrahl starrte, der langsam in einen Pappbecher träufelte.

Die Deckenlampe in der kleinen Kaffeenische flackerte. Chrissy Parker zwang sich, aufzublicken.

Da stand er.

Der Lächler.

Vornübergebeugt, den Kopf halb unter der Decke eingequetscht. Viel zu groß für diesen Raum. Er sah genauso aus wie auf den Bildern. Mindestens drei Meter musste das Ding sein. Sein Anzug war schwarz. Im künstlichen Schein der Leuchte schien er sämtliche Helligkeit und Wärme zu absorbieren. Seine grotesk langen Arme streiften den hässlichen, mintgrünen Teppich. Der Hut saß schief auf seinem Kopf, und das Gesicht… Es erinnerte Parker an eine Schaufensterpuppe. Die Züge waren vage angedeutet – wo Augen sein sollten, gab es leichte Vertiefungen und schwarze, runde Punkte. Wo sich die Nase befinden sollte, eine Erhebung. Dafür war der Mund eine lange, krakelig-schiefe Linie, die sich über das gesamte Gesicht zog.

Chrissy Parker stockte der Atem.

Sie hatte sieben Nachrichten. Um den Lächler loszuwerden, brauchte sie aber acht.

***

Der Kaffeebecher klatschte auf den Boden und verspritzte überall braune Flüssigkeit. Die Polizistin wirbelte herum und rannte los. Sie brauchte ihr Telefon. Dann musste sie herausfinden, wo sie eine Nachricht herbekommen konnte.

In ihrem Kopf begann es, dumpf zu pochen. Als sie Nässe auf der Lippe spürte, begriff Chrissy, dass sie an der Lächler-Präsenz litt. Sie hatte Nasenbluten, Kopfschmerzen, Übelkeit. Wie eine Erkältung, nur tausendmal schlimmer. Viele, viele tausend Mal.

Mit lautem Knall schlug sie die Bürotür hinter sich zu. Da, auf dem Schreibtisch. Da lag ihr Handy. Parker hetzte darauf zu. Schweiß stand ihr auf der Stirn. Sie konnte nicht glauben, was hier gerade passierte. Normalerweise war da ein schützender Bildschirm zwischen ihr und den Monstern. Den Lächler jetzt hier im NYPD zu wissen, wo er hinter ihr her war, kam ihr fast unwirklich vor. Und doch passierte es gerade.

Ihr Herzschlag stach mit jeder Bewegung. Ihr Atem presste schmerzhaft gegen ihre Rippen.

Mit lautem Keuchen packte sie ihr Handy. Sieben Nachrichten. Sie brauchte acht.

Parker wirbelte herum. Und der Lächler stand in ihrem Türrahmen.

Er hatte die gleiche Haltung wie vorher bei der Kaffeenische. Die gleichen steifen Arme. Die gleichen leblosen und dennoch gehässigen Züge im Gesicht. Der Hut saß genauso schief und der Anzug war noch genauso merkwürdig fleischig. Aber jetzt war der Lächler zwischen der Polizistin und dem einzigen Ausgang aus ihrem Büro.

Hilflos irrte ihr Blick durch den Raum. Der Schreibtisch würde kaum Schutz bieten, dafür waren die Arme des Monsters zu lang. Nicht mal ihre Dienstwaffe hatte sie hier. Aber selbst wenn sie eine Pistole gehabt hätte, wusste sie nicht, wie gut sie damit umgehen können würde. Ihr letztes Schusstraining war schon eine kleine Ewigkeit her. Abgesehen davon ließen Kugeln die meisten Wesen der Zwischenwelt ziemlich kalt.

Dann huschten ihre Augen zum Fenster. Auf dem Dach der Polizeistation gab es eine Satellitenschüssel. Vielleicht dort?

Es war ihre einzige Chance. Chrissy Parker hechtete über den Schreibtisch. Mit lautem Krachen riss sie den Computer um, verhedderte sich für einen Moment in den Kabeln. Sie krabbelte unter den Schreibtisch. Von dort aus konnte sie sehen, wie sich der Schatten des Lächlers nach ihr ausstreckte und immer näher kam.

Parker wirbelte herum und riss das Fenster auf. Ungelenk hievte sie sich nach draußen. Sofort umfing sie New Yorks eisige Nacht. Wind zerrte an ihrem Blazer. Das Fenstersims und der dahinterliegende Vorsprung waren schmal und glitschig. Mit vor Entsetzen fest zusammengekniffenen Augen tastete sich die Tatortanalystin vorwärts.

Der Lächler erschien im Fensterrahmen. Chrissy entfuhr ein heiserer Schrei. Die Pose hatte sich ein bisschen verändert – der Lächler stand nun vorgebeugt, als wollte er ihm winken. Er war halb nach draußen gelehnt. Und seine Krallenfinger streckten sich in seltsam abgehackten Bewegungen nach Parker aus.

Sie schob sich weiter. Millimeter um Millimeter, bis ihre Finger die Leiter zu fassen bekamen. Dann biss sie die Zähne zusammen und begann, so schnell sie konnte zu klettern. Eisige Finger packten ihre Waden. Schmerz kreischte wie Frostbeulen in Parkers Bein. Sie riss und zerrte, aber der Lächler war stark. Schließlich musste die Analystin mit ihrem zweiten Bein nachtreten.

Mit einem Ruck hievte sie sich aufs Dach. Eisiger Wind und noch kälterer Regen peitschten auf sie herab. Im nächsten Moment spürte sie todeskalte Finger an ihrer Wange. Die Präsenz des Lächlers war überwältigend. Die Luft wich mit einem zitternden Keuchen aus Chrissy Parkers Lungen. Unsichtbare Macht drückte sie zu Boden.

Mit aller Kraft zwang sich die Tatortanalystin, die Hand in Richtung der weißgrauen Satellitenschüssel auszustrecken. So nah, und doch so fern… Schwarze Punkte tanzten vor ihren Augen. Ihre Muskeln krampften. So nah… das Telefon vibrierte.

***

„Und deswegen bin ich jetzt auch erkältet“, erklärte Chrissy Parker am Telefon.

„Na, das klingt ja, als hättest du richtig Spaß gehabt.“ Sarkasmus troff von jeder näselnden Silbe aus John Ambers Mund. „Das nächste Mal überlass lieber uns das Monsterjagen.“

Chrissy Parker seufzte tief und lehnte sich in ihrem Bett zurück. Amber hatte ja Recht. Sie hatte sich wirklich nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Aber sie fand, ein bisschen Anerkennung hatte sie sich trotzdem verdient nach ihrer Auseinandersetzung mit einem Monster.

„Keine Sorge“, sagte sie und hustete ausgiebig, „das nächste Mal darfst du über das Dach des NYPD klettern, während dich eine Ausgeburt des kollektiven Unterbewusstseins verfolgt.“

John Amber schnaubte.

„Klar, klingt witzig. Ich habe ja sonst nichts zu tun…“ Er unterbrach sich für ein lautes Niesen. „Jedenfalls gute Arbeit. Und viel Spaß beim Berichtschreiben.“

Chrissy Parker stöhnte laut auf.

„Dann doch lieber Monsterjagen“, meinte sie mit Nachdruck. „Kann ich den nicht unsere Stations-KI verfassen lassen?“

Amber lachte auf: „Nur, wenn du willst, dass es sich nach einem Heftroman anhört. Verdammter Mist… tja, jetzt muss sich wohl auch mal das Sonderdezernat „Zwischenwelt“ ausruhen.“

 

 

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